Israelischer Armee-Sprecher gibt in der AZ Fehler zu: "Der Feind wurde unterschätzt"

Israelische Soldatinnen beobachten, wie die Hamas den Überfall vorbereitet. Doch die Verteidigungsstreitkräfte nehmen ihre Warnungen nicht ernst – späte Reue.
von  Shir Birnbaum
Roni Lifshitz (1.v.r.) und Margaret Vainshtein (3. v. r.) mit ihren Kolleginnen, die am 7. Oktober von der Hamas ermordet wurden, während eines Gruppenausflugs in der Nähe des Gazastreifens.
Roni Lifshitz (1.v.r.) und Margaret Vainshtein (3. v. r.) mit ihren Kolleginnen, die am 7. Oktober von der Hamas ermordet wurden, während eines Gruppenausflugs in der Nähe des Gazastreifens. © privat

Tel Aviv - Am 7. Oktober 2023 hat Roni Lifshitz in der Militärbasis in Nahal Oz, Süd-Israel, knapp einen Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt, 18 Kolleginnen verloren. 13 wurden ermordet und fünf entführt. Die 21-jährige Soldatin selbst war an diesem Tag nicht im Dienst, sondern auf einem Seminar – das hat ihr das Leben gerettet. Ihre Freundinnen hatten dieses Glück nicht.

Sie waren auf dem Stützpunkt, als Hamas-Terroristen am "Schwarzen Samstag" gegen 6.30 Uhr nach Israel eindrangen und ein grausames Massaker anrichteten: Sie folterten, vergewaltigten und verbrannten ihre Opfer lebendig. "Mir wurden meine Freundinnen genommen. Dabei war kein Abschied geplant", sagt Lifshitz gefasst. Man merkt, dass sie den ersten Schock verarbeitet, das Trauma aber nach wie vor nicht überwunden hat.

 

Lifshitz war immer stolz darauf, Grenzbeobachterin zu sein. Und heute "würde ich die zwei Jahre Militärdienst wieder genauso machen", sagt sie. Nahal Oz sei für sie ein zweites Zuhause geworden, das die Terroristen nun zerstört haben.

Grenzbeobachterinnen im Operationsraum in der Militärbasis in Nahal Oz. Aus Sicherheitsgründen sind Bilderschirme und Personen unkenntlich gemacht.
Grenzbeobachterinnen im Operationsraum in der Militärbasis in Nahal Oz. Aus Sicherheitsgründen sind Bilderschirme und Personen unkenntlich gemacht. © privat

Soldatinnen Israels: Junge Frauen werden "Augen des Landes" genannt

Ihre Einheit besteht hauptsächlich aus jungen Frauen im Alter von 18 bis 21 Jahren. Ihre Aufgabe ist es, die Bilder der Kameras, die an den Grenzen Israels aufgestellt sind, zu beobachten und bei verdächtigen Geschehnissen die Bodentruppen zu verständigen. Sie sitzen 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche in Schichten vor den Bildschirmen, um ihr Land zu schützen. Die Soldatinnen werden auch "Augen des Landes" genannt.

 

Die Grenzbeobachterinnen sammelten im vergangenen halben Jahr Hinweise, die auf eine geplante Aktion der Hamas hingedeutet haben. "Wir beobachteten, wie Männer trainierten, wie sie sich dem Grenzzaun näherten und Sprengstoff vergruben. In den letzten Monaten sogar immer häufiger", erinnert sich Margaret Vainshtein. Die 21-jährige Kollegin von Lifshitz war am Tag des Überfalls auf einer anderen Militärbasis stationiert. "Die Männer haben ständig Fotos vom Zaun gemacht, sie wussten, wo unsere Kameras sind."

Die Hamas-Terroristen seien an den Zaun gekommen und hätten die israelischen Bodentruppen provoziert, um herauszufinden, welche Sicherheitsvorkehrungen es auf israelischer Seite gibt. Sie bauten sogar einen Panzer nach und trainierten, wie ihre Kämpfer das Fahrzeug einnehmen.

Hamas-Attacke auf Israel: "Der Feind wurde unterschätzt"

Im untersten Militärrang dienen wehrpflichtige Soldaten und Soldatinnen wie Lifshitz und Vainshtein, im obersten die Berufssoldaten. Die gesammelten Informationen haben die zwei jungen Frauen an ihre Kommandeure weitergeleitet. Die wichtigsten erreichten das Verteidigungsministerium und letztlich die Regierung. Es waren auffällige Kampfübungen, die offenbar von den IDF (Israel Defense Forces, auf Deutsch: Israelische Verteidigungsstreitkräfte) nicht ernst genommen wurden.

Major Arye Shalicar, Sprecher der IDF, gibt im Gespräch mit der AZ zu: "Wir haben versagt! Wir wussten schon seit Jahren, dass ein Überfall geplant ist. Der Feind wurde unterschätzt, wir haben ihn nicht wirklich gekannt." Shalicar macht eine kurze Pause, denkt nach. "Wir haben angenommen, dass er nur die Muskeln spielen lassen wollte. Wir haben nicht damit gerechnet, dass er zu solchen Grausamkeiten fähig ist."

 

Die interne Schuldfrage für das kollektive Unterschätzen und die Gutgläubigkeit ist nach wie vor nicht geklärt. Doch jemand muss für das Versagen die Verantwortung tragen, darin sind sich die Israelis einig. Laut Shalicar ist aber "jetzt noch nicht der richtige Zeitpunkt". Der Grund: Israel konzentriert sich auf die Mission, die Geiseln zu befreien und die Sicherheit für die Bewohner rund um den Gazastreifen wiederherzustellen. Das Verteidigungsministerium und das Ministerium für nationale Sicherheit wollten sich auf Anfrage der AZ zu dem Thema nicht äußern.

Noch immer sind 138 Geiseln nicht befreit

Der Knesset-Abgeordnete Alon Schuster, der in Mefalsim, Süd-Israel, an der Grenze zum Gazastreifen lebt, schildert, dass die Bewohner sich vor dem Überfall sicher gefühlt haben. Tunnel der Hamas, die unterhalb der Grenze verliefen, wurden vor Jahren zerstört und zum Schutz wurde eine Mauer gebaut. Doch am 7. Oktober sprengten die Terroristen die Mauer und drangen nach Israel ein.

Schuster ist sich dennoch sicher, dass die Bewohner in die Kibbuzim rund um den Gazastreifen zurückkommen werden. "Es werden auch neue israelische Familien herziehen, die das Gebiet stärken", sagt er.

Insgesamt werden noch 138 Geiseln seit mehr als 100 Tagen im Gazastreifen festgehalten, darunter fünf von Lifshitzs und Vainshteins Freundinnen. Or Moshe, Sprecherin der Organisation "Bring Them Home" (auf Deutsch: Holt sie nach Hause), erklärt, dass die Schuldfrage für die Angehörigen aktuell nicht wichtig sei. Sie ergänzt: "Im Moment ist es oberste Priorität, ein Abkommen mit der Hamas zu vereinbaren, um alle Geiseln zu befreien."

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