IS zwingt 130 000 Menschen zur Flucht in die Türkei
Der Vormarsch der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Norden Syriens hat einen neuen Flüchtlingsstrom in die Türkei ausgelöst.
Istanbul/Berlin - Seit Freitag seien mehr als 130 000 Menschen über die Grenze gekommen, sagte der türkische Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus. Insgesamt seien bei Angriffen auf die vor allem von Kurden bewohnte Grenzregion sogar 150 000 Menschen vertrieben worden, teilte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mit.
Die Türkei bereitet sich auf eine neue Flüchtlingswelle mit möglicherweise Hunderttausenden Menschen vor - abhängig von weiteren Angriffen des IS. Schon bisher hat die Türkei nach Regierungsangaben mehr als 1,3 Millionen Flüchtlinge vor allem aus Syrien aufgenommen.
Die Bundesregierung will europäische Staaten in die Pflicht nehmen, die von dem großen Flüchtlingsandrang noch kaum betroffen sind. Ein Sprecher des Innenministeriums kritisierte am Montag, dass "überhaupt nur 10 von 28 EU-Staaten Flüchtlinge in nennenswertem Umfang aufnehmen". Dies müsse verbessert werden. Angesichts der Flucht Zehntausender syrischer Kurden vor der IS in die Türkei will Deutschland zudem einen neuen Vorstoß zur Lösung im Syrien-Konflikt machen.
Die kurdische Enklave Ain al-Arab (Kurdisch: Kobane) war am Montag weiterhin von drei Seiten durch IS-Kämpfer eingeschlossen. Ein Sprecher der syrischen Kurden-Milizen namens Hogar Kamishili sagte aber, die kurdischen Kämpfer seien von einer Verteidigungs- in eine Angriffsstellung übergegangen. Sie versuchten nun, die Dörfer zu befreien, die IS in der vergangenen Woche in der Umgebung von Ain Al-Arab eingenommen hatte. Er forderte die Internationale Gemeinschaft zur Hilfe auf. Die humanitäre Lage in Ain Al-Arab verschlechtere sich durch die Belagerung und den Beschuss.
Die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK rief alle Kurden zum Kampf gegen IS auf. "Jetzt ist die Zeit, unsere Ehre zu verteidigen", zitierte die PKK-nahe Agentur Firat aus einer Mitteilung. "Der Widerstand sollte keine Grenze kennen." Den IS-Terroristen werde es nicht gelingen, Ain al-Arab einzunehmen, "welche Kräfte auch immer hinter ihnen stehen und wie groß ihre Waffen auch sind". Die PKK warf der türkischen Regierung vor, den IS zu unterstützen. "Jede Kugel, die von der IS-Verbrecherband auf den Norden Kurdistans abgefeuert wird, ist vom türkischen Staat abgefeuert worden."
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Rami Abdel Rahman von der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sagte der Nachrichtenagentur dpa zur Lage in Ain Al-Arab: "Der Ort ist wie eine Geisterstadt." Im Osten, Süden und Westen stünden die Extremisten nur noch wenige Kilometer vor Ain Al-Arab.
Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth forderte eine verstärkte Aufnahme von Flüchtlingen. Das Vorgehen des IS habe eine Tragödie nie dagewesenen Ausmaßes ausgelöst, sagte die Grünen-Politikerin im Deutschlandfunk. Die Linke-Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel erhob nach einem Besuch an der türkisch-syrischen Grenze Vorwürfe gegen die türkische Regierung. Sie teilte mit, die Grenze in Suruc gegenüber der Stadt Kobane sei am Sonntag zum Zeitpunkt ihres Aufenthaltes dort geschlossen gewesen.
Ein Sprecher der Rebellengruppe Kurdenfront berichtete unterdessen, mehr als 80 IS-Kämpfer seien bei Gefechten südlich und östlich von Ain al-Arab getötet worden. Andere Einheiten hätten sich in der Stadt Asas nördlich von Aleppo Kämpfe mit der IS-Miliz geliefert. Dabei seien acht IS-Kämpfer getötet worden. Die Kurdenfront ist eine im syrischen Bürgerkrieg gegründete Rebellengruppe, die vor allem in Nordsyrien gegen Soldaten des Regimes von Baschar al-Assad sowie gegen die IS-Miliz kämpft.
Im Irak forderten kurdische Politiker die Regierung in Bagdad sowie die internationale Gemeinschaft auf, ein Massaker in Ain al-Arab zu verhindern. Der Bevölkerung von Ain al-Arab drohe ein "Völkermord durch die Hände der IS-Kämpfer", sagte Schalul Kadu von der kurdischen Linkspartei der irakischen Nachrichtenseite Al-Sumaria News am Montag. Der Irak habe als Nachbarland zu Syrien eine Verpflichtung gegenüber den Kurden in Ain al-Arab. "Beide Seiten leiden unter einem gemeinsamen Feind", sagte Kadu mit Blick auf IS.
Seit Anfang des Jahres sind rund 100 000 Asylbewerber nach Deutschland gekommen - das sind fast 60 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2013. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, das deutsche Asylrecht könne zwar nicht alle Probleme der Welt lösen. "Wir können aber auch nicht so tun, als ginge uns das nichts an." Die Bundesregierung hält trotz des jüngsten Vormarsches von IS in Syrien an ihrer Linie fest, keine Waffen an Rebellengruppen in dem Bürgerkriegsland zu liefern.
Die Terrormiliz kontrolliert in Syrien rund ein Drittel des Landes. Die nordsyrische Stadt Al-Rakka ist eine ihrer Hochburgen. Bei dem Vormarsch Mitte Juni auf das Nachbarland Irak eroberten die Dschihadisten dort mit Mossul die zweitgrößte Stadt des Landes sowie weitere Regionen im Osten und Norden. Ihre Eroberungen hat die IS-Miliz in einem selbst ernannten "Kalifat" zusammengefasst.