IS-Terrormiliz wieder in der Offensive
Istanbul/Kobane - Die Lage in der von der Terrormiliz Islamischer Staat eingekesselten syrisch-kurdischen Stadt Kobane wird immer dramatischer. Augenzeugen berichteten am Mittwoch von heftigen Gefechten im strategisch wichtigen Grenzort. Nachdem Luftschläge der internationalen Koalition und kurdische Kämpfer die Dschihadisten zunächst gebremst hatten, gingen die IS-Milizen zu einer Gegenoffensive über. Bei Demonstrationen für den Schutz Kobanes kamen in der Türkei mindestens 14 Menschen ums Leben. Auch in Deutschland gab es gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Islamisten.
Ein dpa-Korrespondent in Suruc berichtete von heftigen Gefechten in Kobane (arabisch: Ain al-Arab), die auf der türkischen Seite der Grenze zu hören seien. Verwundete kurdische Kämpfer würden aus Kobane in türkische Krankenhäuser gebracht.
"Die Situation ist schlechter, als die Menschen denken", sagte ein Kämpfer der Volksschutzeinheiten, der aus Kobane über die Grenze kam, der Nachrichtenagentur dpa. "Viele sind ernsthaft verletzt und noch immer drinnen (in Kobane). Es war nicht möglich, sie raus zu bringen. IS ist sogar noch näher gekommen."
Ein kurdischer Aktivist namens Farhad al-Shami in Kobane sagte der dpa am Telefon, die Kämpfe konzentrierten sich auf den Osten der Stadt. "IS-Kämpfer haben eine groß angelegte Offensive begonnen, um den gesamten Bezirk Kani Araban unter ihre Kontrolle zu bringen", sagte er. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte und die kurdische Nachrichtenseite Welati hatten zuvor gemeldet, kurdische Kämpfer hätten den Vormarsch der Dschihadisten gebremst und sie an den östlichen Stadtrand gezwungen. Die sunnitischen Extremisten waren am Montag nach wochenlangen Kämpfen in die Ortschaft eingedrungen.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sprach bei einem Treffen mit seinem jordanischen Kollegen Nasser Dschudeh in Berlin von einer Fortsetzung der "syrischen Tragödie". "Wir müssen bekennen, dass wir das geeignete Mittel noch nicht gefunden haben, um den langdauernden Krieg und Bürgerkrieg in Syrien einem Ende zuzuführen."
Frankreichs Staatspräsident François Hollande sprach sich für die Einrichtung einer Pufferzone für Flüchtlinge zwischen Syrien und der Türkei aus. Diese solle vertriebene Menschen aufnehmen und schützen, teilte der Élysée-Palast nach einem Telefonat Hollandes mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan mit. Hollande habe dabei die Notwendigkeit betont, "das Massaker an der Bevölkerung im syrischen Norden zu verhindern". Er habe sich damit hinter die Idee Erdogans gestellt, eine solche Pufferzone einzurichten.
Der neue Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wird an diesem Donnerstag zu Beratungen über den Kampf gegen IS in der Türkei erwartet. In Ankara will er unter anderem Erdogan treffen, wie das Verteidigungsbündnis mitteilte. Sollte die Terrormiliz IS von Kobane in Richtung Türkei vorrücken, könnte Ankara den Bündnisfall ausrufen, der Nato-Partner zur Verteidigung der Türkei verpflichten würde.
Die syrischen Kurden baten die internationale Gemeinschaft unterdessen eindringlich um schwere Waffen. "Jeder sagt "wir stehen Euch bei"", sagte der Ko-Präsident der syrischen Kurden-Partei PYD, Salih Muslim, der türkischen Zeitung "Hürriyet Daily News. Aber kein Land unternehme dafür konkrete Schritte.
Die dramatische Lage in Kobane bringt auch die Regierung in Ankara zunehmend in Bedrängnis. Im kurdisch dominierten Südosten der Türkei kamen bei Protestmärschen für den Schutz der Grenzstadt mindestens 14 Menschen ums Leben, wie örtliche Medien übereinstimmend berichteten. Die meisten der Opfer seien bei Zusammenstößen zwischen Islamisten und Anhängern der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK getötet worden.
Die türkische Regierung rief zum sofortigen Ende der gewalttätigen Demonstrationen auf. "Wir werden keine Toleranz gegenüber gewalttätigen Protesten oder Vandalismus zeigen", sagte Vize- Ministerpräsident Yalcin Akdogan nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu. Bisher haben die an der Grenze stationierten türkischen Truppen nicht in die Kämpfe eingegriffen. Das Parlament in Ankara hatte der Regierung jedoch die Erlaubnis erteilt, militärisch gegen Terrorgruppen in Syrien und im Irak vorzugehen.
Die Kämpfe im Irak und in Syrien wirken sich auch auf Deutschland aus: Bei Gewaltausbrüchen zwischen Kurden und Islamisten wurden in Hamburg und Celle mindestens 23 Menschen teils schwer verletzt. Dutzende Verdächtige wurden vorübergehend festgesetzt. Die Polizei in Celle unterband die Zusammenstöße in der Nacht zum Mittwoch mit Schlagstöcken und Pfefferspray, in Hamburg kamen Wasserwerfer zum Einsatz. Ein dpa-Fotograf berichtete, die Islamisten hätten die Kurden mit Metallstangen, Macheten und spitzen Gegenständen angriffen. Auch die Kurden hätten Waffen bei sich getragen.
Im Irak dauerten die Kämpfe ebenfalls an. Dschihadisten töteten nach Informationen des Nachrichtenportals "Sumaria News" eine frühere irakische Parlamentarierin in der nördlichen Stadt Tel Afar. In dem arabischen Land hatte IS im Juni mit der Eroberung der Millionenstadt Mossul ihren Vormarsch auf Bagdad begonnen.