Interview

Extremismus-Experte Neumann erklärt in der AZ, warum die AfD immer stärker wird

Die AfD erlebt einen historischen Höhenflug. Was sind die Ursachen – und wie können die demokratischen Parteien gegensteuern? Ein Experten-Gespräch.
von  Natalie Kettinger
Katrin Ebner-Steiner (l.) von der AfD in Bayern sowie Fraktionsvorsitzende Alice Weidel.
Katrin Ebner-Steiner (l.) von der AfD in Bayern sowie Fraktionsvorsitzende Alice Weidel. © Fabian Sommer/dpa

München - Er gehört zu den bekanntesten Extremismus-Experten: Der gebürtige Würzburger Peter R. Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King's College London. Er war 2017 Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und berät derzeit die EU-Kommission zum Thema Extremismus. Mit "Logik der Angst" hat er nun ein Buch über die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln vorgelegt.

AZ: Herr Neumann, im aktuellen ARD-Deutschladtrend liegt die AfD bei 23 Prozent. In Hessen ist sie bei der Landtagswahl mit 18,4 Prozent zweitstärkste Kraft geworden, in Bayern mit 14,6 Prozent drittstärkste. Warum wählen Menschen eine teils rechtsextreme Partei, die unter anderem in Bayern vom Verfassungsschutz beobachtet wird?
PETER R. NEUMANN: Verschiedene Studien haben gezeigt, dass mindestens die Hälfte der AfD-Wähler sogenannte Denkzettel- oder Protestwähler sind, die unzufrieden sind mit der Fähigkeit der etablierten Parteien, die aktuellen Probleme zu lösen. Hinzu kommen die Überzeugungswähler – 15 bis 45 Prozent, je nach Studie. Das sind Leute, die ein geschlossenes rechtes Weltbild haben. An die kommt man schwer ran. Aber die erste Gruppe kann man möglicherweise erreichen, indem man handlungsfähige Politik macht, die den Menschen zuhört und ihre Probleme ernst nimmt, ohne sie zu beschimpfen.

"Das aktuelle Ziel der AfD ist nicht der Faschismus, sondern Schritt für Schritt, genau wie Viktor Orbán in Ungarn, die demokratischen liberalen Kontrollinstanzen unwirksam zu machen: die Gerichte, die Medien, das Parlament", sagt Peter R. Neumann im AZ-Interview.
"Das aktuelle Ziel der AfD ist nicht der Faschismus, sondern Schritt für Schritt, genau wie Viktor Orbán in Ungarn, die demokratischen liberalen Kontrollinstanzen unwirksam zu machen: die Gerichte, die Medien, das Parlament", sagt Peter R. Neumann im AZ-Interview. © imago

Experte Neumann: Die AfD profitiert von der aktuellen Parteien-Situation

Bislang gelingt es den demokratischen Parteien nicht gegenzusteuern. Warum ist das so?
Das Problem ist, dass alle etablierten Parteien in der Mitte entweder nicht handlungsfähig sind oder als nicht handlungsfähig gelten. Die aktuelle Regierung blockiert sich in vielen Politikfeldern gegenseitig, die den Menschen wichtig sind – sei es beim Klimaschutz oder der Migration. Und mit den Unionsparteien haben wir eine Opposition, die für viele noch nicht glaubwürdig ist. Schließlich ist es erst zwei Jahre her, dass die CDU nach 16 Jahren die Macht abgeben musste. Davon profitiert die AfD.

In das Thema Migration ist spätestens mit dem Treffen im Kanzleramt, zu dem auch CDU-Chef Friedrich Merz geladen war, Bewegung gekommen. Zu spät?
Es ist nie zu spät. Migration ist ein Thema, bei dem es absolut notwendig ist, dass alle demokratischen Parteien zusammenarbeiten. Nicht, weil die Menschen grundsätzlich oder aus rassistischen Gründen gegen Migranten sind. Aber viele haben das Gefühl, dass die Zuwanderung unkontrolliert und nicht gesteuert ist; dass die Gesellschaft nicht entscheiden kann, was passiert; und auch, dass etwas zu viele Menschen nach Deutschland kommen. Dem muss man nachkommen und einen gesetzlichen Rahmen schaffen, der die Migration auf der einen Seite begrenzt und kontrolliert und auf der anderen Seite weiterhin Deutschlands humanitäre Verpflichtungen erfüllt. Die Wahrheit ist ja, dass auch die AfD keine Lösung anzubieten hat – aber sie täuscht es vor und ist zudem die einzige Partei, die über das Problem spricht.

Neumann: "Das wirklich Bemerkenswerte bei der AfD"

Das heißt: Die AfD instrumentalisiert die Ängste der Menschen.
Ein Blick in die Geschichte zeigt: In den letzten 200 Jahren waren rechtsextreme Parteien, Gruppen und Bewegungen immer dann erfolgreich, wenn die Verlustängste der Menschen besonders hoch waren. Angst war schon immer der Nährboden, auf dem sie ihre Botschaften formulieren und Schuldige identifizieren. Sie lenken die Angst in ihr politisches Projekt um – und es geht immer gegen die Fremden und die liberalen Eliten. Genau das sehen wir jetzt auch bei der AfD.

Jubeln über 14,6 Prozent der Stimmen bei der Landtagswahl in Bayern (v.l.): Andreas Winhart, parlamentarischer Geschäftsführer der AfD im Bayerischen Landtag sowie die Spitzenkandidaten Martin Böhm und Katrin Ebner-Steiner.
Jubeln über 14,6 Prozent der Stimmen bei der Landtagswahl in Bayern (v.l.): Andreas Winhart, parlamentarischer Geschäftsführer der AfD im Bayerischen Landtag sowie die Spitzenkandidaten Martin Böhm und Katrin Ebner-Steiner. © Uwe Lein/dpa

Die AfD wurde 2013 als Euro-skeptische Partei gegründet. Wo steht sie heute?
Sie hat sich deutlich radikalisiert, Schritt für Schritt. Der erste Vorsitzende Bernd Lucke war ein Liberal-Konservativer, aber bestimmt kein Rechtsextremer. Dann kam Frauke Petri, die schon etwas rechter war, dann Alexander Gauland. Jetzt steht Tino Chrupalla an der Spitze der Partei. Er wird, genau wie zwei Drittel des Bundesvorstandes, von Björn Höcke gesteuert und kontrolliert. Von einem Mann also, der die Politik der Nazi-Zeit verherrlicht, gegen Parlamentarismus ist, gegen die liberale Demokratie, und der glaubt, dass die aktuelle Regierung Deutschland vernichten möchte. Das wirklich Bemerkenswerte bei der AfD ist: Normalerweise funktioniert Demokratie so, dass alle Parteien hin zur Mitte streben, wenn sie Wähler gewinnen möchten. Bei der AfD war der Prozess genau umgekehrt: Je extremer sie in ihren Positionen geworden ist, desto erfolgreicher wurde sie. Das ist eine ungewöhnliche, gefährliche Dynamik.

Experte: Die AfD versteht es, sich als Opfer darzustellen

Es wird immer mal wieder über ein Verbot der AfD diskutiert. Was halten Sie davon?
Das wäre aus zwei Gründen nicht sinnvoll: Ich glaube, viele Leute, die jetzt von einem Verbot sprechen, wünschen sich eine Art Knopf, auf den man drückt und dann löst sich die AfD in Luft auf. So funktioniert es aber leider nicht. Die AfD würde sich wahrscheinlich in ähnlicher Form wieder gründen, mit anderem Namen, leicht verändertem Personal und ihre Attraktivität wäre nach wie vor gegeben. Hinzu kommt, dass wir aus Verbotsverfahren der Vergangenheit wissen, dass sie Jahre dauern – und nicht garantiert ist, dass der entsprechende Antrag am Ende erfolgreich ist. Während dieser Zeit würde die AfD tun, was sie am besten kann: Sich als Opfer der etablierten Parteien darstellen.

In Bayern sind die Rechten jetzt Oppositionsführer. Wie wird sich der Parlamentsbetrieb dadurch verändern?
Die AfD sieht sich meiner Meinung nach nicht als konstruktive Parlamentspartei. Also als eine Partei, die Gesetze formuliert, wenn sie an der Regierung ist, oder die Regierung kontrolliert, wenn sie in der Opposition ist. Die extremen Strömungen der AfD sind gegen den Parlamentarismus. Sie benutzen das Parlament, um die eigenen Mandatsträger zu versorgen, und als Bühne, auf der man zweiminütige feurige Reden halten und sie dann als Clips auf den Sozialen Medien verbreiten kann. Aber im Prinzip wollen sie das Parlament delegitimieren, dort Chaos stiften, es bloßstellen und handlungsunfähig machen. Wie weit die AfD in Bayern von einer demokratischen Partei entfernt ist, hat sie nicht zuletzt 2019 bewiesen, als ihre Abgeordneten bei der Gedenkminute für den von einem Nazi ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke als einzige nicht aufgestanden sind. Sie waren nicht bereit, dem Opfer eines politischen Mordes Respekt zu zollen.

Strategie der AfD: Vorbild Ungarn?

2024 wird in Sachsen, Brandenburg und Thüringen gewählt. Aktuell liegt die Alternative in allen drei Ländern in den Umfragen vorne. Bekommt die Bundesrepublik dann den ersten AfD-Ministerpräsidenten?
Das kommt darauf an, wie die anderen Parteien sich verhalten. Es ist ja hoffentlich nicht damit zu rechnen, dass die AfD und Björn Höcke eine absolute Mehrheit bekommen. Daher wären alle anderen Parteien – auch die CDU, deren Mitglied ich ja bin – gut beraten, die Brandmauer gegenüber der AfD aufrecht zu erhalten. Das ist keine demokratische, konstruktive Partei. Wer mit ihr eine Koalition eingeht, kann nur verlieren, weil die AfD das Ziel hat, demokratische Strukturen so zu verändern, dass sie nicht mehr wirksam sind.

Der Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke.
Der Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke. © Sebastian Willnow/dpa

Wie meinen Sie das genau?
Das aktuelle Ziel der AfD ist nicht der Faschismus, sondern Schritt für Schritt, genau wie Viktor Orbán in Ungarn, die demokratischen liberalen Kontrollinstanzen unwirksam zu machen: die Gerichte, die Medien, das Parlament. All jene Institutionen, die in einer liberalen Demokratie die Macht der Regierung kontrollieren und Minderheiten schützen, sollen so geschwächt werden, dass formal zwar weiterhin eine Demokratie mit Wahlen, Parlament und Opposition besteht, die Kontrollinstanzen im Prinzip aber unwirksam geworden sind. Viktor Orbán kann machen, was er möchte – und das will die AfD auch.

Neumann: Auch Meloni möchte in Italien eine illiberale Demokratie

Von Ungarn nach Italien: Sie haben Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in einem Interview als die "derzeit cleverste Rechtspopulistin Europas" bezeichnet. Warum?
Giorgia Meloni hat eine sehr gut ausformulierte Ideologie und eine Strategie: Sie versteht zum Beispiel, dass sie erstmal das Vertrauen internationaler Partner gewinnen muss. Als sie gewählt wurde, war der Aufschrei groß über die Post-Faschistin an der Macht. Doch dann hat sie alle überrascht, weil sie die Ukraine unterstützt – und nicht Russland, wie viele erwartet hatten. In Brüssel heißt es zudem, die italienische Regierung arbeite perfekt mit den EU-Institutionen zusammen. Das hat dafür gesorgt, dass keiner der europäischen Partner mehr Angst vor Giorgia Meloni hat, was ihr wiederum erlaubt, innenpolitisch den Staat nach ihren Vorstellungen umzubauen.

Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. © Evan Vucci/AP

Inwiefern?
Das betrifft vor allem zwei Bereiche: Sie möchte die Geburtenrate erhöhen. Deshalb hat sie Sozialprogramme aufgelegt, mit denen Familien unterstützt werden sollen. Dazu gehört aber auch, dass Abtreibungen begrenzt werden und die sogenannte Gender-Ideologie eingeschränkt oder gar verboten wird. Außerdem ist ihr Plan, die Migration sehr stark einzudämmen. Auch da ist sie clever: Sie bittet EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die europäischen Regierungschefs um Hilfe für Italien. Sie geht nach Tunesien und schließt dort einen Vertrag. Wenn das aber alles nicht funktioniert, kann sie ihrer Bevölkerung sagen: Ich habe es auf die normale Art und Weise erfolglos versucht – jetzt mache ich es auf meine: mit einer Seeblockade und indem ich Menschen ertrinken lasse. Sie ist clever und geduldig. Wobei ihre Strategie am Ende doch auf das hinausläuft, was auch die AfD möchte: eine illiberale Demokratie à la Orbán.

"Konservative wie Linke müssen wieder mehr auf die Menschen zugehen"

Wie könnte man den Rechtspopulisten und -extremisten in Deutschland denn das Wasser abgraben?
Ich habe am Ende meines Buches dazu zwei Forderungen formuliert: Die Konservativen müssen ehrlicher sein und sehr deutlich machen, dass sich das Deutschland der 1970er oder 1980er nicht wiederherstellen lässt – was die AfD ja verspricht: ein Deutschland ohne Politische Korrektheit, ohne Klimaschützer und Migration. Das ist reine Fantasie, bei der die Konservativen aber manchmal mitmachen. Tatsache ist, dass sich die Uhr nicht zurückdrehen lässt. Wir müssen das Beste aus dem Deutschland machen, das wir haben. Und ja: Auch Kreuzberg gehört zu Deutschland, nicht nur Gillamoos, wie Friedrich Merz unlängst behauptet hat. Da muss man den Menschen gegenüber ehrlich sein.

Peter E. Neumanns neues Buch "Logik der Angst. Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln" ist gerade bei Rowohlt erschienen und kostet 22 Euro.
Peter E. Neumanns neues Buch "Logik der Angst. Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln" ist gerade bei Rowohlt erschienen und kostet 22 Euro.

Ihre zweite Forderung richtet sich an die Linken.
Die sollten damit aufhören, Menschen zu überfordern und zu beschimpfen. Der alte weiße Mann – auch schon so eine Art Beleidigung – in Ostdeutschland, der auf dem Land lebt, eine Ölheizung hat und Auto fährt, ist ja für einige Leute im grünen Milieu schon fast ein Verbrecher. Aber es gibt viele, die so sind. Denen darf man nicht jeden Tag sagen, dass alles, wofür sie stehen, falsch ist. Denn dann kommt die AfD und sagt: Du musst Dich nicht beleidigen lassen, Du kannst zu uns kommen und sein, wie Du möchtest. Also: Leute nicht zu beleidigen, ihnen gleichzeitig aber klar zu machen, dass Veränderung notwendig ist, ist die große Herausforderung bei den Linken. Außerdem sollten sie auch über Themen sprechen, die ihnen womöglich unangenehm sind: Themen wie Heimat und Identität sind für Menschen wichtig, die sich unsicher fühlen und Verlustängste haben. Beide, Konservative wie Linke, müssen sich am Riemen reißen und wieder mehr auf die Menschen zugehen.


Peter E. Neumanns neues Buch "Logik der Angst. Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln" ist gerade bei Rowohlt erschienen und kostet 22 Euro.

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