Immer mehr AfD-Wähler, Tausende bei Demo in München: Expertin sieht Fehler in der Vergangenheit

München - Mit Ursula Münch hat die AZ über die Proteste gegen die AfD gesprochen. Die 62-jährige Professorin für Politikwissenschaft leitet die Akademie für Politische Bildung in Tutzing.
AZ: Frau Münch, haben Sie die Recherchen von "Correctiv" in der vergangenen Woche überrascht?
URSULA MÜNCH: Nein, um ehrlich zu sein. Dass die AfD einen größeren Teil der Migranten wieder loswerden will, sagt sie ja laut. Das wusste man vorher. Das Überraschende ist, dass sie bereit ist, sich über Staatsbürgerrecht hinwegzusetzen. Das hätte ich nicht mal der AfD zugetraut. Natürlich ist das skandalös, aber offenbar erregt das nur einen Teil der Bevölkerung.

Inwiefern?
Es gibt einen Anteil der Bevölkerung, der extrem migrations-skeptisch ist. Das darf man auch sein, das ist noch keine AfD-Position. Grundsätzlich ist das ein berechtigtes Anliegen, weniger Migration haben zu wollen. Insofern wird man mit der großen öffentlichen Erregung den Anteil der AfD-Wähler nicht dezimieren können.
"Bloß nicht zur schweigenden Mehrheit gehören"
Nun gibt es ja öffentliche Proteste. Gehen da nur die auf die Straße, die ohnehin die SPD oder die Grünen wählen?
Schwierig zu sagen. Es hat auf jeden Fall einen Selbstvergewisserungscharakter. Damit meine ich: Es gehen vor allem die hin, die ohnehin gegen die AfD sind. Wenn ich Interviews von Demo-Teilnehmern höre, heißt es aber teils auch, dass sie es wichtig finden, nicht bloß zur schweigenden Mehrheit zu gehören, die das nicht gut findet, aber sich bisher nicht geäußert haben. Da wird es schon ein paar geben! Es wird eine gewisse Mobilisierung geben.
Was können die etablierten Parteien machen, um die Menschen wieder zurückzugewinnen, die migrationskritisch sind?
Es gibt noch eine Chance. Wir sehen, dass die AfD, oder zum Teil die Freien Wählern – wobei ich die strikt voneinander trennen möchte –, aber auch beispielsweise das Bündnis Sahra Wagenknecht diese Rhetorik auch bedienen. Aber eben bei Weitem nicht so menschenfeindlich wie die AfD.
"Das war meines Erachtens ein Fehler. Und ich finde, das darf thematisiert werden"
Was müsste die Politik konkret tun?
Das Zentrale ist die Aufgabe: Der Staat muss handlungsfähig sein. Die Wahrnehmung ist seit 2015 eine andere, im Grunde wurde der Eindruck vermittelt: "Ja, da können wir doch nichts machen, wenn die jetzt an der Grenze stehen." Das war meines Erachtens ein Fehler. Und ich finde, das darf thematisiert werden. Da ist man noch kein Rassist, wenn man das sagt und mehr Kontrolle und Handlungsfähigkeit des Staats wünscht.
Zugleich müssen die anderen Parteien deutlich machen, dass man sich nicht ständig übertrumpft. Ich sehe schon das Problem, dass wir in eine Spirale geraten, bei der jeder noch eins oben draufsetzen will. Zentral ist, zu klären: Was ist tatsächlich durchsetzbar? Was kann ein Land, was kann die EU erreichen? Was ist mit völkerrechtlichen Verpflichtungen? Und eben nicht in eine Eskalationsrhetorik zu verfallen und den Leuten das Blaue vom Himmel runter zu versprechen, was nicht durchsetzbar ist. Ich halte das Ruanda-Modell zu propagieren für unredlich – da möge man mir mal den afrikanischen Staat zeigen, der tatsächlich dazu bereit ist. Da wird es nicht allzu viele geben.
Die Bauern gehen auf die Straße, es gibt Demos pro Israel und pro Palästina, jetzt wird gegen die AfD demonstriert. Ist das ein Ausdruck, dass die Menschen politischer werden, oder sollte uns das eher warnen?
In der Politikwissenschaft geht man davon aus, dass ein gewisses Maß von Partizipation zu einer freiheitlichen Demokratie dazugehört, also dass Menschen für oder gegen etwas demonstrieren. Aber wir erleben derzeit, ich würde fast schon sagen, eine "Übermobilisierung". Ein gewisses Maß an Mobilisierung muss sein, aber wenn es sehr viele Bevölkerungsgruppen erreicht und zum Teil grenzwertig, dann wird es eher zu einem Krisenphänomen. Noch ist alles im Normalmaß, ich würde jetzt keine Krise herbeireden wollen. Aber wenn das nun wochenlang so weitergeht, dass ständig jemand gegen etwas ist, dann würde ich das als Krisenphänomen wahrnehmen.
Haben wir die Fähigkeit verloren, in Dialog miteinander zu gehen?
Die Fähigkeit nicht, aber die Orte, an denen das stattfindet: Wenn man sich überlegt, wie viele Wirtshäuser zugemacht haben, wie viele Stammtische es nicht mehr gibt, wie viele Leute lieber ins Fitnessstudio gehen, statt sich in einem Verein auseinanderzusetzen. Lieferdienste statt Restaurantbesuche, Online-Shopping statt Geschäft – es fehlt schlicht an den Gelegenheiten zum Austausch.