„Im Zweifel trösten weder Bibel noch Grundgesetz“

BERLIN - Kurz vor seinem 90. Geburtstag stellt Altkanzler Helmut Schmidt sein neues Buch „Außer Dienst“ vor. Beim Auftritt in Berlin präsentiert er sich als Elder Statesman, moralische Instanz - und Strippenzieher bei seinen Sozialdemokraten.
Draußen Szenen wie in Bayreuth: „Suche Karte“ hält der junge Mann ein Schild in die Höhe. „Für Helmut Schmidt“ steht klein in Klammern darunter, damit kein Zweifel aufkommt. Hier vor dem Berliner Ensemble, der Heimspielstätte so vieler Brecht-Inszenierungen, geht es nicht um einen Theaterstar, sondern um Zugang zu einem der ganz Großen der deutschen Gesellschaft.
Mit fast 90 steht er im Rampenlicht, alert und weise, charmant und nachdenklich reagiert er auf die Fragen von Claus Kleber, dem Ober-Smartie vom heute-Journal.
In den letzten Jahren genießt die Öffentlichkeit seine knarzenden, knarrenden Einlassungen, zwei, drei Sätze, dahingesagt, „auf eine Zigarette“ – und schon waren alle Zweifel beseitigt, ob der alte Mann noch fit sei. An diesem Abend soll es mehr davon geben.
"Ich habe mich nie außer Dienst gefühlt"
Seit mehr als 25 Jahren ist Helmut Schmidt „Außer Dienst“, so heißt auch sein neues Buch. Und doch, so kokettiert er bereits im Vorwort: so ganz stimmt das nicht: „Ich habe mich nach dem Ausscheiden aus allen öffentlichen Ämtern nie außer Dienst gefühlt.“ Und das merkt man gerade in den letzten Tagen. Vielsagend das Bild aus Hamburg, als sich der Altkanzler halb hinter einen Vorhang zurückzog mit Frank-Walter Steinmeier. Eine Szenerie wie aus einem Beichtstuhl. Der Grandseigneur, der im Dezember 90 wird, hatte guten Rat für den 51-jährigen Niedersachsen, der einmal sein Nachfolger im Kanzleramt werden soll.
Doch zur SPD, zur „Tagespolitik“ will er eigentlich gar nichts sagen: Nur dass er „zufrieden ist mit dem Ergebnis“ der SPD-Kabale. Die Art des internen Umgangs in der SPD mag er nicht kommentieren.
Kleber fragt nicht nach, auch nicht nach Oskar Lafontaine und den Scharmützeln um die Nazi-Vergleiche. Schade eigentlich, aber irgendwie versteht man Kleber auch. Schon Schmidts Erscheinung duldet keinen Widerspruch.
Hat er beim jüngsten SPD-Putsch mitgemischt?
Und so bleibt auch die Version unwidersprochen, Schmidt habe im Hintergrund mitgemischt, um den vornehm-zaudernden Steinmeier bei der Kanzlerkandidatur endlich zum Zupacken zu überreden. Dass der über den Wassern schwebende Altkanzler damit zum Akteur einer Intrige wird, stört einen wie Schmidt nicht: „Es wäre eine irreale, geradezu absurde Vorstellung, unter den Führungspersönlichkeiten einer Partei müssten persönliche Freundschaftsverhältnisse herrschen,“ heißt es in seinem Buch.
Was Schmidt im Buch auf Herbert Wehner bezog, gilt sicher auch auch für die SPD von heute, für Schröder, („er hätte noch ein wenig warten sollen mit dem Gazprom-Job“), für Steinmeier oder gar für Kurt Beck.
Schmidt sind die „Macher“ lieber, ein Begriff, der einst eigens für ihn erfunden schien: „Diskussionen müssen Resultate bringen, Resultate müssen zu Entscheidungen führen, Entscheidungen zu Taten.“ Zackzackzack. Geschichte wird gemacht.
Persönliche Fragen sind ihm eher unangenehm. Auf Klebers eher unjournalistische Neugier: „Wie geht es Ihnen? zeigt Schmidt auf seinen Hals: „Unterhalb nicht gut, oberhalb funktioniert alles noch einigermaßen.“ Am 23. Dezember wird er 90. Freut er sich darüber? „Das hält sich in Grenzen.“ So leicht taut man einen wie ihn nicht auf. Aber das Publikum lacht.
Mit der Jungfrauengeburt kann er nichts anfangen
Überschwänglich wird man ihn nicht mehr erleben. Schmidt zeigt, dass man „cool“ sein kann, wenn man kühl ist, und sich nicht in heiße Verzückung steigern muss: „Beten Sie Herr Schmidt?“ - „Nein“, hatte er im Bams-Interview gesagt. In den wirklich schwierigen Fragen „trösten weder Bibel noch Grundgesetz“. Wie hält er's mit der Religion? Es ist eine der bemerkenswertesten Passagen im Gespräch, und es ist eines der spannendsten Kapitel im Buch. Im Konfirmandenunterricht kamen Jungfrauengeburt, das leere Grab, die Wunder, die Arche Noah vor – „das waren lediglich seltsame Geschichten für einen Fünfzehnjährigen“, sagt Schmidt. Und im Krieg wurden die Zweifel nicht kleiner: „Wieso hat Gott den größenwahnsinnigen Führer geduldet?“
Das Gespräch mit einem angehenden Pastor während des Krieges irgendwo in Russland hat ihn beeindruckt und in seiner Überzeugung für religiöse Toleranz bestärkt: „Christliche Mission habe ich für einen Verstoß gegen die Menschlichkeit gehalten,“ schreibt er. Aber: „Wenn ein Mensch in seiner Religion Halt gefunden hat, dann hat keiner das Recht, diesen Menschen von seiner Religion abzubringen.“
Haben Sie ihren Amtseid als Minister und als Kanzler eigentlich mit der religiösen Formel beendet, will Kleber wissen: „Ja, ganz einfach, weil es dazugehört.“ Punkt. Um gegen die moralischen Verkommenheit der Nazis zu protestieren, hätten er und Loki während des Krieges kirchlich geheiratet.
Dennoch: „Die Ethik des Berufspolitikers bedarf sowenig wie die politische Moral des Staatsbürgers einer religiösen Grundlage.“ Und: „Viele Deutsche haben sich heute vom Christentum gelöst und können gleichwohl Gutes tun und gute Nachbarn sein.“ Welch erfrischende Worte in einer Welt voller Gotteskrieger.
Nur Französisch kann er nicht - "Ein Versäumnis!"
Schmidt ist besten Sinne des Wortes ein Weltmann, und nichts weniger als das zu sein fordert er von denen, die ihm nachfolgen wollen im Beruf. Zwar sei es keineswegs wie im Klischee, dass alle Politiker in erster Linie nach der Macht streben: „Manche streben nur nach persönlicher Anerkennung." Eigentlich sollten sie, schreibt der Alte den Jungen ins Stammbuch, erst mal die Welt kennen lernen: „Einer, der niemals China oder Indien, niemals Russland, Lateinamerika und Afrika erlebt hat, der ist für den Politikerberuf eigentlich nicht zureichend ausgerüstet.“
Französisch sollte man können (Er kann es nicht: „Ein Versäumnis!“) und die deutsche Geschichte mindestens seit der französischen Revolution kennen. „Und darüber hinaus die Geschichte unserer europäischen Nachbarn.“ Denn: „Wer von der Geschichte nichts kennt, kann seine Gegenwart nicht verstehen.“
Es gibt ihn noch, den alten Sozialdemokraten. Seine eigenen „Erfahrungen aus der Wirtschaft“ dürften manchen Gewerkschaftern runtergehen wie Öl, auch wenn Schmidts Beziehungen zu den Arbeiterführern nicht immer spannungsarm waren: „Wenn ein Vorstand sich mit dem gewählten Betriebsrat nicht einigen kann, liegt die größere Schuld meist beim Vorstand.“ Kritik an der Mitbestimmung „durch einige neoliberale Wortführer lässt mich heute so unberührt wie ehedem“..“ Und ach ja, damit Schmidt nicht auch noch irrtümlich als SPD-Linker durchgeht, das auch noch: Gerhard Schröders Agenda sei notwendig und richtig gewesen.
„Wenn ich Verantwortung hätte, dann würde ich mir wünschen, dass man den Menschen die Agenda besser erklärt“, sagt er. Die Welt müsse sich ändern.
Helmut Schmidt lässt keinen Zweifel, dass er dabei noch lange zusehen möchte. Es ist ihm von ganzem Herzen zu wünschen.
Matthias Maus