„Ihr Arbeitsplatz entfällt“

Trotz guter Konjunktur fürchten viele Münchner Beschäftigte um ihre Jobs. Auch beim Industriekonzern Siemens macht die Angst der Mitarbeiter vor einem möglichen Jobverlust nicht halt. Das Bild der heilen Welt droht zu zerbröckeln.
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Trotz guter Konjunktur fürchten viele Münchner Beschäftigte um ihre Jobs. Auch beim Industriekonzern Siemens macht die Angst der Mitarbeiter vor einem möglichen Jobverlust nicht halt. Das Bild der heilen Welt droht zu zerbröckeln.

Jeder zweite Deutsche ist infiziert. Von der Angst, nicht mehr gebraucht zu werden in der Firma. Entlassen zu werden. Arbeitslos zu sein. Und schließlich in die Armut abzugleiten. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes ist ein gesellschaftliches Problem in Deutschland. Neu angeheizt wird die Debatte nun durch einen schockierenden Fall: Seit gestern steht in Wuppertal eine junge Frau vor Gericht. Sie hat ihr Baby in ihrer Badewanne zur Welt gebracht und erstickt. Das Tatmotiv: Die Frau hatte Angst, wegen ihres Kindes ihren Job zu verlieren. Sicherlich ist dies ein Extremfall.

Aber dennoch hinterlässt die Angst vor der Arbeitslosigkeit bei allen Betroffenen tiefe Spuren in der Psyche. Die Folgen: Seelen-Qualen und Schaden für die Volkswirtschaft (Interview). Neueste Untersuchungen ergeben, dass Menschen mit Job-Angst psychisch stärker belastet sind als jene, die ihren Job schon verloren haben.

„Jeder hier fürchtet um seinen Job.“

Viele Beschäftigte beim Elektrokonzern Siemens kennen diese Angst – obwohl die Geschäfte ihres Arbeitgebers gar nicht so schlecht laufen. Früher konnten sie sich wie Beamte fühlen. Ihre Jobs waren sicher. Jetzt spaltet die Konzernspitze ganze Sparten ab, kündigt Stellenabbau an. Im Juli gab Konzernchef Peter Löscher bekannt, dass er weltweit fast 17 000 Jobs einsparen will, davon über 5000 in Deutschland. Löschers Begründung: „Die Geschwindigkeit, mit der sich das Geschäftweltweit verändert, hat erheblich zugenommen.“ Die Siemens- Aktionäre freuen sich darüber.

Anders die Mitarbeiter: Die heile Siemens-Familie wird zum Fall für den Psychiater. Reinhard Lampe ist Betriebsrat bei der Siemens-Telekommunikationssparte SEN in der Hofmannstraße. Er sagt: „Jeder hier fürchtet um seinen Job.“ Vor zwei Jahren erfuhren die 1400 Münchner Beschäftigten, dass Siemens SEN verkaufen will. Um die kriselnde Sparte für Investoren attraktiv zu machen, mussten Stellen abgebaut werden. Bis September 2009 will Siemens jedoch auf betriebsbedingte Kündigungen verzichten.

Die Angst ist überall

Das hört sich gut an – ist aber keine Sicherheit vor Entlassungen, sagt Lampe. „Die Mitarbeiter, die gehen sollten, wurden gezielt von ihren Chefs angesprochen und mit einem Brief konfrontiert. In den Briefen stand: ,Ihr Arbeitsplatz entfällt’.“ Dann hätte es persönliche Gespräche gegeben, Abfindungs-Angebote. „Wer nein sagte, fiel unten durch. Einige Chefs fragen fast täglich, ob man nicht doch gehen will.

Wer ablehnt, hat in Zukunft einen schweren Stand.“ Vor eineinhalb Wochen meldete Siemens: Die Heuschrecke „The Gores Group“ will SEN kaufen. Doch ob die Amerikaner wirklich Interesse am Job-Erhalt haben, bezweifeln viele. Im nächsten Jahr läuft die Job-Garantie ab. Droht ein zweiter Fall Benq? Die Ex- Handy-Sparte von Siemens wurde vom taiwanesischen Handy-Bauer gekauft. Als die Job-Garantie ablief, feuerten die Asiaten alle Ex-Siemensianer. Bei SEN in der Hofmannstraße mussten laut Betriebsrat bislang mindestens 175 Beschäftigte gehen, weitere 100 sollen folgen. Wie sieht das Innenleben der Mitarbeiter aus? „Diese Unsicherheit und Angst rückt bis rauf in die Führungsetage. Die erfasst alle“, sagt Reinhard Lampe. Wer könnte der nächste sein? Aus Angst vor dem Jobverlust meldet sich keiner mehr krank.

Schlafstörungen, Verspannungen, Tinnitus

Die Folgen der Job-Angst: „Die Mitarbeiter sind gehemmt, sie können sich nicht voll aufs Geschäft konzentrieren. Das schadet unserem Geschäft.“ Doch nicht nur in abgespaltenen Siemens-Sparten grassiert die Angst – auch im Herzstück. In der Münchner Zentrale will der Konzern 650 Stellen streichen – wieder mal ohne betriebsbedingte Kündigungen. „Die Bedrohung ist nicht konkret, sondern abstrakt“, sagt ein Betriebsrat zur AZ. „Wenn sie konkreter ist, ist es aber manchmal besser. Dann kann man sich mit dem Schock auseinandersetzen.“

Die Folge der Job-Angst: „Das lähmt. Man kreist ständig um das Nicht-Fassbare, das bald kommen wird.“ Die Job-Angst habe auch gesundheitliche Folgen: „Hörstürze kommen hier immer wieder vor.“ In anderen Teilen des Unternehmens habe es schon Herzinfarkte gegeben, Schlafstörungen, Verspannungen, Tinnitus. „Die Firmen-Seite spricht von Einzelfällen“, sagt der Betriebsrat.

Volker ter Haseborg

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