Horst Teltschik: "Wir müssen die EU stärken"

Gastbeitrag: Horst Teltschik über die Einsicht, dass Frieden kein gottgegebener Zustand ist, sondern ewige Friedensarbeit.
von  Horst Teltschik
Der Abstand ist allein Corona geschuldet: Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, begrüsst Bundeskanzlerin Angela Merkel im Fort de Bregancon.
Der Abstand ist allein Corona geschuldet: Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, begrüsst Bundeskanzlerin Angela Merkel im Fort de Bregancon. © Michael Kappeler

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AZ-Serie: Wie Frieden wahren? Podcast mit Horst Teltschik (vom 26.02.2021)

Noch nie haben Deutsche eine so lange Friedensperiode erlebt als die heute lebenden Generationen. Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg mit über 50 Millionen Toten, Millionen von Kriegsgefangenen und Flüchtlingen, zerstörten Städten und mit dem Erdboden gleichgemachten Dörfern. Im August 1945 wurden die ersten Atombomben über die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Hunderttausend Einwohner waren sofort tot, hundertdreißigtausend starben in den Folgejahren. Noch heute leiden Bewohner unter den Nachwirkungen.

Die oberste Maxime muss sein: Nie wieder Krieg!

Welches Inferno wollen wir eigentlich noch erleben, um zu begreifen, dass die Antwort nur lauten kann: Nie wieder Krieg! Nie wieder eine Diktatur, ob Faschismus, Kommunismus oder welcher Art auch immer! Deutschland, verantwortlich für zwei Weltkriege, hat allen Grund, sich mit an die Spitze aller Staaten zu stellen, die den Frieden in Europa und weltweit vor allem politisch zu sichern versuchen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es mit Unterstützung der drei westlichen Siegermächte gelungen, in der Bundesrepublik Deutschland einen musterhaften Rechtsstaat, eine lebendige Demokratie, eine dynamische Gesellschaft und eine erfolgreiche soziale Marktwirtschaft aufzubauen und ständig weiter zu entwickeln. Alle radikalen Bewegungen, ob von rechts und links, konnten abgewehrt und müssen auch in der Zukunft schon in der Keimzelle bekämpft werden. Der österreichische Dichter Franz Grillparzer hat zu Recht von der Gefahr gesprochen, "von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität" zu gelangen.

Im internationalen Vergleich gilt Deutschland heute als eines der stabilsten Demokratien und wirtschaftlich erfolgreichsten Länder der Welt. Doch dieser Erfolg ist kein Selbstläufer. Er erfordert von jedem Bürger persönlichen Einsatz und den Willen, über seine persönlichen Interessen hinaus sich für das Wohl der Mitmenschen, für unsere Demokratie und für einen weltweiten Frieden einzubringen.

Schon Churchill schlug die Vereinigten Staaten von Europa vor

Voraussetzung dafür ist und bleibt ein stabiler und sicherer Frieden in Europa und angesichts der ständigen Weiterentwicklung von interkontinentalen und weltraumgestützten sowie maritimen Waffensystemen auch im weltweiten Rahmen.

Goethe's Aussage in seinem großen Werk Faust I gilt längst nicht mehr: "Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit, in der Türkei, /Die Völker aufeinander schlagen. / Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus / Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; /Dann kehrt man abends froh nach Haus".

Heute setzt die Türkei militärische Kräfte in Syrien ein, unterstützt Aserbeidschan militärisch gegen Armenien, bedroht das EU-Mitglied Griechenland, interveniert in Libyen, verfestigt die Teilung Zyperns. Gleichzeitig drängt die Türkei in die Europäische Union. Auf der anderen Seite hat die Türkei rund vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Iran aufgenommen. Das risikoreiche Verhalten der Türkei berührt die Sicherheitsinteressen aller Europäer. Frieden und Sicherheit für Deutschland allein ist deshalb keine Garantie mehr für dauerhaften Frieden. Kluge und weitsichtige Politiker hatten deshalb bereits während der Weimarer Republik und vor allem am Ende des Zweiten Weltkriegs von der Notwendigkeit gesprochen, dass die Europäer, allen voran Deutschland und Frankreich eng zusammenarbeiten müssten. Diese Erwartung sprach ausgerechnet ein britischer Staatsmann mit allem Nachdruck an.

Der ehemalige Premierminister Sir Winston Churchill sprach am 19. September 1946 in der Aula der Universität Zürich davon, dass auf dem Hintergrund der europäischen Tragödie des Zweiten Weltkrieges, in deren Folge "ungeheure Massen zitternder menschlicher Wesen gequält, hungrig, abgehärmt und verzweifelt auf die Ruinen ihrer Städte und Behausungen starren" würden, es aus seiner Sicht nur "ein Mittel" gäbe, "das wie durch ein Wunder die ganze Szene verändern und in wenigen Jahren ganz Europa, so frei und glücklich machen könnte, wie es die Schweiz heute ist…Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten".

Als Kernstück davon sah er die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich. Nicht überraschend, Großbritannien schloss er aus.

Deutsch-französische Freundschaft als Grundpfeiler

Churchill sollte recht behalten: Die enge deutsch - französische Freundschaft und Zusammenarbeit wurde einer der entscheidenden Grundpfeiler der deutschen Außenpolitik und der wichtigste Motor für die europäische Integration. Stellvertretend stehen dafür vor allem Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Präsident Charles de Gaulle, Bundeskanzler Helmut Schmidt und Präsident Giscard d'Estaing, Helmut Kohl und Francois Mitterand, letztere Arm in Arm mit Jacques Delors, dem damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission - ein erfolgreiches Dreigestirn für die Durchsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion. Diese erfolgreiche Zusammenarbeit war auch eine wichtige Voraussetzung für die Zustimmung unserer westlichen Partner zur Wiedervereinigung.

Letztlich gilt dieses Erfolgsrezept auch für die Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren verschiedenen französischen Partnern. So gelang es beispielsweise dem deutsch- französischen Duett auf Initiative der Bundeskanzlerin, den russischen Präsidenten Putin zum Minsker Abkommen zu bewegen - ein wichtiger Schritt zur Befriedung der Ukrainekrise. Letzter Beleg dafür ist der Erfolg des gerade zu Ende gegangenen EU-Gipfels in Brüssel mit der Durchsetzung des EU-Wiederaufbaufonds, den die Bundeskanzlerin mit dem französischen Präsidenten im Frühjahr vorgeschlagen hatte.

Wer die deutsch-französische Freundschaft in Frage stellt, sollte sich die Vielzahl der militärischen Auseinandersetzungen vor Augen führen. Der französische Historiker und Dachau-Überlebende, Professor Joseph Rovan, erzählte mir einmal, dass es allein zwischen Deutschland und Frankreich seit dem 16. Jahrhundert 27 große Kriege gegeben habe. Das müsste in der Tat reichen.

Brexit-Politik ist eine Katastrophe für Europa

Welche Begründung brauchen wir eigentlich noch, um überzeugte Verfechter der deutsch-französischen Zusammenarbeit und der europäischen Integration zu sein?! Insofern ist die britische Politik des Brexits für Europa eine Katastrophe. Er verstärkt die vorhandenen Tendenzen der Erosion der EU.

Das Verhalten von Ungarn und Polen, die sich nach dem Ende des kommunistischen Regimes nicht schnell genug der EU anschließen konnten, zeigt die Zerbrechlichkeit der EU. Mitgliedsstaaten wie Italien oder Griechenland sind von ähnlichen Versuchungen nicht weit entfernt.

Europa braucht die USA - wir brauchen die NATO

Die zweite Säule für Stabilität und Frieden in Europa war und bleibt die Freundschaft mit den USA und die Zusammenarbeit in der Atlantischen Allianz. Daran sollten auch unsägliche Präsidenten wie Donald Trump nichts ändern können. Der Kalte Krieg, der Europa wie den gesamten Westen immer wieder an den Rand eines Dritten Weltkrieges gebracht hat, konnte nur gemeinsam überwunden werden.

Wir brauchen die NATO. Völker vergessen Geschichte nicht. Unsere neun Nachbarstaaten können mit dem durch die Wiedervereinigung größer gewordenen Deutschland im Herzen Europas leichter zusammenleben, wenn wir im gleichen Bündnis sind und das die USA einschließt. Das sieht die heutige russische Führung als potenzielle Bedrohung, rüstet konventionell wie atomar weiter auf und interveniert militärisch in Nachbarregionen wie Georgien, Ukraine oder im Konflikt um Berg Karabach sowie in Krisenregionen wie Syrien oder Libyen.

Dauerhafter Friede und Sicherheit setzen eine Verständigung und Zusammenarbeit mit Russland voraus. Im November 1990 hatten alle 27 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Mitgliedsstaaten in Paris die "Charta für ein neues Europa" unterzeichnet. Ziel war ein gemeinsames Europa von Vancouver bis Wladiwostok, in dem alle Mitglieder gleiche Rechte und Pflichten und gleiche Sicherheit haben sollten. Welch' eine Vision!? Der ehemaligen israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir wird die Aussage zugeschrieben: "Wer keine Vision habe, sei kein Realist". Die Pariser Charta nennt die wichtigsten Prinzipien der Zusammenarbeit und eine Reihe von Instrumenten und Foren zur Umsetzung. Doch wir haben sie nur mangelhaft genutzt.

"Wir müssen die EU stärken und weiterentwickeln"

Heute sind wir mit einer Welt konfrontiert, die fast apokalyptische Züge angenommen hat. Die Gefährdungen sind offensichtlich und wie die gegenwärtige Pandemie beweist, grenzenlos. Dazu gehören der dramatische Klimawandel, die damit verbundenen Umweltkatastrophen, die dramatische Überbevölkerung, die zahllosen Flüchtlingsströme, die sich anbahnende nukleare Aufrüstung, die jetzt selbst den Weltraum einschließt oder neue, zum Teil selbsttätige konventionelle Systeme; die Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz; der drohende Eingriff selbst in das Erbgut des Menschen... Damit ist die Liste noch nicht vollständig.

Gleichzeitig aber werden multilaterale Organisationen wie die Vereinten Nationen, die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Weltwirtschaftsorganisation (WTO) und selbst die Europäische Union in Frage gestellt oder bewusst geschwächt. Gleichzeitig drängen neue Akteure, neue Weltmächte wie die VR China oder Indien auf die globale Bühne.

Wie wollen wir in Europa Frieden wahren? Unsere Antwort kann weiterhin nur lauten: Wir müssen die EU stärken und weiterentwickeln. Wir müssen die Atlantische Allianz am Leben erhalten. Wir brauchen eine gesamteuropäische Perspektive mit Russland zusammen. Es gibt viel zu tun.

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