Hoher Krankenstand lässt Wirtschaft schrumpfen: Experte rät zu mehr Zuwanderung und weniger Teilzeit

Im Jahr 2023 war der Krankenstand in Deutschland besonders hoch – mit fatalen Auswirkungen für die Wirtschaft. Das Rezept dagegen? Nicht nur Hygienemaßnahmen wie zu Coronazeiten sollen helfen.
von  Maximilian Neumair
Noch nie waren so viele Deutsche wie im Jahr 2023 krank. Das hat auch der Wirtschaft geschadet.
Noch nie waren so viele Deutsche wie im Jahr 2023 krank. Das hat auch der Wirtschaft geschadet. © imago

München – Das Bild von Deutschland als Patienten ist unter Wirtschaftsexperten beliebt. Vom "kranken Mann Europas" ist dann die Rede.

Eine Studie des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (VFA) zeigt, wie wortwörtlich dieser Ausspruch für die derzeitige Lage zu verstehen ist: Demnach hat der hohe Krankenstand 2023 (knapp sieben Prozent) die deutsche Wirtschaft in eine Rezession gedrückt. Das Bruttoinlandsprodukt wäre ohne Ausfälle um 0,5 Prozent gewachsen. Stattdessen ist es um 0,3 Prozent geschrumpft.

"Würde der in den vergangenen zwei Jahren beobachtete Krankenstand die neue Normalität darstellen, stünden der deutschen Volkswirtschaft Arbeitskraft im Umfang von ausgerechnet gut 350.000 Beschäftigten weniger zur Verfügung", erklärten die Studien-Forscher.

Deutschlands Wirtschaft krankt also wortwörtlich an zu wenig Arbeitskraft, um weiter wachsen zu können. Dünne Personaldecken werden durch viel Arbeit stark belastet. Und werden dadurch auch vermehrt krank, was die Arbeitslast pro Kopf noch vergrößert. Damit nicht nur Deutschlands Wirtschaft, sondern auch ihre Leistungsträger fit bleiben, stellen sich zwei Fragen:

Woher lässt sich neue Arbeitskraft nehmen? Und inwiefern lässt sich die bereits vorhandene mehr nutzen?

Hygiene-Maßnahmen wie in der Pandemie

Die naheliegende Antwort auf letztere: den Krankenstand schrumpfen. Ein "kosteneffektives, sehr einfaches und schnelles Mittel" hierfür wäre, wieder mehr Hygienemaßnahmen wie zu Corona-Zeiten während der Erkältungssaison zu ergreifen, wie es Florian Englmaier, Professor für Organisationsökonomik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, vorschlägt. Schließlich machen Erkältungskrankheiten ein Viertel der Fehltage aus, wie aus dem Fehlzeitenreport 2023 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) hervorgeht.

Fast die Hälfte der Arbeitsunfähigkeitstage ist auf nur 5,8 Prozent der Fälle zurückführen: Das liegt an langen Fehlzeiten, die vor allem in körperlich anstrengenden Branchen wie dem Baugewerbe besonders oft vorkommen - sie machen dort laut Wido über 44 Prozent der arbeitsunfähigen Tage aus. Eine Entlastung bei körperlicher Arbeit könnte es durch verbesserte Technik geben, die Schwerstarbeit abnimmt, schlägt Ökonom Englmaier vor.

Die Fehltage wegen psychischer Belastungen sind in einem Zeitraum von zehn Jahren um fast 50 Prozent gestiegen, heißt es im Fehltage-Report des Wido. Um für weniger psychologische Belastung zu sorgen, könnte es etwa eine Sanktion für Unternehmen geben, die über den Durchschnitt Krankheitsfälle produzieren, weil sie ihre Mitarbeiter systematisch überlasten sagt der Wirtschaftswissenschaftler der AZ.

Laut Johanna Baumgardt, Forschungsbereichsleiterin des Wido, kann etwa Überforderung und Zeitdruck auf der Arbeit zu psychischen Belastungen führen.

Expertin: Arbeit per se macht nicht krank

Sie sagt aber auch, dass Arbeit auf keinen Fall per se krank mache, sondern auch gesundheitsfördernde Aspekte habe, wie etwa das Gefühl von Gemeinschaft, finanzielle Unabhängigkeit und Sinnerleben.

Wie Englmaiers Vorschläge illustrieren, ist ein wichtiges Instrument für mehr körperliche und geistige Gesundheit die Vorbeugung. Gesundheitsexpertin Baumgardt sagt: "Wenn ein Gesundheitssystem auf Prävention setzt beziehungsweise in dieses stark investiert, ist das meines Erachtens immer eine gute Idee." Auch der VFA wirbt in seiner Studie zum Krankenstand in Deutschland für mehr Investitionen in vorbeugende Maßnahmen.

Ergänzend dazu hält Baumgardt schnell verfügbare, niedrigschwellige Angebote zur Früherkennung und Behandlung von Krankheiten für sinnvoll.

Für eine gesunde Wirtschaft braucht es jedoch nicht nur gesunde Menschen, sondern auch ein größeres Arbeitsangebot. Eine kurzfristige Maßnahme, um das zu erweitern, wäre etwa, dass Menschen mehr Stunden arbeiten. "Ich kann jeden einzelnen Lokführer verstehen, der sagt, er will weniger arbeiten. Aber das passt nicht ins makroökonomische Gesamtbild", sagt Englmaier. Das liege daran, dass es nicht nur einen Fachkräftemangel, sondern inzwischen einen generellen Arbeitskräftemangel gebe.

Der Ökonom macht es anhand eines Beispiels verständlich: Menschen, die als Lokführer anfangen, weil es verkürzte Arbeitszeiten gibt, fehlten dann wiederum in anderen Arbeitsmarktsegmenten. Das Problem hierbei: Bereits seit geraumer Zeit sei der Krankenstand so hoch, dass Ausfälle nicht mehr ohne Weiteres durch Überstunden aufgefangen werden können, mahnt der VFA.

Neben der Erhöhung der Zahl der Arbeitsstunden hält es Englmaier für alternativlos, die Lebensarbeitszeit insgesamt zu verlängern. Das Modell, das viele Ökonomen favorisieren: "Wenn die Lebenserwartung um zwölf Monate steigt, soll die Lebensarbeitszeit um acht Monate angehoben werden." Auch eine stärkere Flexibilisierung für jene zu ermöglichen, die länger als bis 67 arbeiten wollen, ist Englmaier zufolge sinnvoll.

Viele Frauen arbeiten in Teilzeit

Langfristig gesehen müsste es mehr Erwerbsbeteiligung geben. Potenzial sieht Englmaier vor allem bei den Frauen. Laut dem Statistik-Unternehmen Statista sind 77,1 Prozent der Frauen erwerbstätig. Knapp 48 Prozent davon arbeiten jedoch bloß in Teilzeit. Dafür bräuchte es dem Ökonomen zufolge jedoch zunächst die passenden Rahmenbedingungen wie etwa die Verbesserung der Kinderbetreuungssituation.

Das Arbeitsangebot mittels Arbeitslosen aufzustocken, sieht Englmaier hingegen kritischer: "Der Anteil derjenigen, die nicht arbeiten wollen, ist relativ gering." Das bestätigen auch die Zahlen: Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lehnen gerade einmal 2,6 Prozent der Bürgergeld-Empfänger Jobs ab. "Die Zeiten wie in den 80ern oder teilweise in den 90ern, als wir ein ,Reserveheer der Arbeitslosen' hatten, sind in Deutschland vorbei. Das ist ein bisschen eine Phantom-Diskussion", sagt Englmaier.

Wie wird Deutschland für Arbeitnehmer aus dem Ausland attraktiv?

Ganz anders sieht es mit der Zuwanderung aus: "Wir könnten die Zahl der Arbeitnehmenden lokal erhöhen, wenn wir die Zuwanderung erhöhen könnten oder die Zugewanderten effektiver in den Arbeitsmarkt bringen würden. Sehr wahrscheinlich ist es so, dass man beides braucht", sagt der Ökonom. Er habe das Gefühl, dass die derzeitige Migrationsdebatte unter der Überschrift "Ausländer raus" stehe. "Wir müssen uns sehr genau überlegen, wie wir das schnell schaffen, dass wir attraktiv für Zuwanderer in den Arbeitsmarkt werden." Einfach zu bewerkstelligen sei die Erhöhung der Zuwanderung nicht.

Mehr Menschen bedeuten zumindest ein höheres Arbeitskräftepotenzial. Und weniger Belastung für den Einzelnen. Neben einer gesünderen Gesellschaft, die weniger krank wird, die wohl wirkungsvollste Medizin, damit auch die Wirtschaft genest.

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