Hans-Jochen Vogel: „Die Aufgaben kamen immer auf mich zu“
Münchner OB, SPD-Chef, Kanzlerkandidat: Der 84-Jährige spricht über Rückschläge, Olympia und einen Mann, den er nicht mehr beim Namen nennt. Hans-Jochen Vogel im großen AZ-Interview.
Herr Dr. Vogel, Sie sind seit 60 Jahren in der SPD. Mal ehrlich, wie oft haben Sie schon an Austritt gedacht?
HANS-JOCHEN VOGEL: Entschuldigung, wenn Sie sagen „mal ehrlich“, dann klingt das so, als ob ich ausnahmsweise einmal ehrlich antworten sollte. Ich habe mich aber stets bemüht, Fragen nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. Also: Es gab einmal eine Situation, in der ich nachgedacht habe.
Wann?
Das war nach den Münchner innerparteilichen Flügelkämpfen. Und die Mehrheit in der Partei ging dann bis zum April 1972 verloren. In dem Moment hab ich schon nachgedacht. Nicht darüber, die Partei zu verlassen. Sondern darüber, mich aus der aktiven Politik zurückzuziehen. Da waren es Willy Brandt und Volkmar Gabert, die gesagt haben: Wenn du das tust, wirst du dir bald wie ein Flüchtling vorkommen.
1974, zu Ihrer Zeit als Bayerns SPD-Chef, holte die SPD bei den Landtagswahlen 30,2 Prozent. Vor zwei Jahren waren es nur mehr 18,6 Prozent. Was ist alles schief gelaufen?
Ein wesentlicher Grund ist, dass sich die festen Milieus aufgelöst haben. Das katholisch-ländliche Milieu ist die Grundlage für den Volksparteicharakter der CSU. Und der großbetrieblich-gewerkschaftlich strukturierte Bereich, das war das SPD-Milieu. Die Individualisierung führt dann zu Entscheidungen, die der einzelne nach der jeweiligen Situation trifft. Die CSU hat damit ja ganz ähnliche Probleme – wenn auch auf zahlenmäßig höherem Niveau.
Sie stellen die SPD jetzt als Opfer des Zeitenwandels dar. Hat sie denn nicht auch Fehler gemacht?
Während der Regierungszeit im Bund wurden Entscheidungen getroffen, die dem Gemeinwohl gedient, dem Parteiinteresse aber geschadet haben. Die Agenda 2010 beispielsweise, von der ja auch die Union sagt, das sie wesentlich zur relativen Stabilität in der Krise und zum gegenwärtigen Aufschwung beigetragen hat. Da sage ich: Es ehrt eine Partei, wenn sie das Gemeinwohl deutlich höher veranschlagt als das eigene Parteiinteresse. Zu nennen wäre auch die Rente mit 67. Das waren keine Fehler. Aber die Kommunikation vor und nach der Entscheidung hätte besser sein können.
Sie waren zwölf Jahre Münchner OB.
Zwölf Jahre und zwei Monate, also, wie ein Freund einmal ausgerechnet hat, 4444 Tage.
Verfolgen Sie die Kandidatendiskussion um die Ude-Nachfolge?
Sicher. Konkrete Äußerungen werden Sie aber von mir nicht erwarten.
Dann lassen Sie uns über die Kandidatenfrage im Bund sprechen. Die Politik lebt von handelnden Personen. Zu Ihrer Generation gab es herausragende Köpfe. Wen sehen Sie heute in der SPD, der diese Zugkraft hat?
Man muss da der heutigen Generation gegenüber Gerechtigkeit walten lassen. Die Personen, an die wir jetzt denken, sind durch härteste Lebensprüfungen gegangen. Und ihre Autorität, aber auch ihr Charisma beruhten ganz wesentlich darauf. Willy Brandt zum Beispiel, Herbert Wehner oder Helmut Schmidt. Man darf den heutigen Akteuren nicht vorwerfen, dass sie solche Prüfungen nicht zu bewältigen hatten.
Wer hat denn auf Sie den meisten Eindruck gemacht?
Als ich der Partei vor 60 Jahren beitrat, war das Kurt Schumacher. Später die eben genannten und mein Vorgänger Thomas Wimmer.
Und die heutigen Akteure?
Von denen hat Gabriel eine gute Entwicklung genommen. Dann hat er als Umweltminister seine Sache gut gemacht, und zwar auch auf internationalem Parkett. Jetzt wird er seiner aktuellen Aufgabe durchaus gerecht. Frank-Walter Steinmeier macht seine Sache tadellos und hat zudem durch eine sehr persönliche Entscheidung viel Sympathie gefunden. Und wenn wir uns in den Ländern umschauen: Da nenne ich Kurt Beck, der mit einer absoluten Mehrheit regiert. Oder Hannelore Kraft, die in NRW den Übergang aus der Opposition in die Regierung geschafft hat. Und einer, den man immer im Auge behalten sollte, ist der Peer Steinbrück.
Und wem trauen Sie eine Kanzlerkandidatur zu?
Diese Frage beantworte ich nicht. Es wäre verfehlt, jetzt schon etwas über eine Wahl zu sagen, die 2013 stattfindet.
Sie waren 1983 Kanzlerkandidat. Was war das für ein Gefühl, gegen Helmut Kohl mit der sehr großen Wahrscheinlichkeit anzutreten, den Posten nicht zu bekommen?
Meine Aufgaben sind immer auf mich zu gekommen. Wenn Sie meinen Lebensweg verfolgen, waren es meistens auch Aufgaben, bei denen sich die Zahl der Mitbewerber in Grenzen hielt. So war das auch mit der Kanzlerkandidatur. Die Gewinnchancen waren nicht groß, aber es war für mich eine Frage des Pflichtgefühls.
Sie bekamen als OB-Kandidat in München 78 Prozent der Stimmen. Gab es denn damals keine Vorbehalte gegen Sie als gebürtigen Göttinger?
Die andere Seite im OB-Wahlkampf sagte damals schon: Das ist ja ein Preuße, aber das konnte ich schnell widerlegen. Meine Eltern, meine Großeltern, meine Urgroßeltern sind alle Münchner oder Bayern. Sechs meiner acht Urgroßeltern liegen auf Münchner Friedhöfen. Das ist eine München-Probe, die nicht alle bestehen. Außerdem habe ich gesagt: Wenn ein Pferd im Kuhstall zur Welt kommt, ist es immer noch ein Pferd.
Warum sind Sie vor 60 Jahren SPD eingetreten?
Meine Freunde und ich haben damals viel darüber diskutiert, was uns die Vorgänger-Generation hinterlassen hat. Zerstörte Städte – und zudem unser Volk mit Verbrechen belastet, deren Ausmaß uns erst allmählich klar wurde. Da haben wir gesagt: Wir Junge müssen uns fürs Gemeinwohl engagieren. Da habe ich mir als Pedant die Parteien und ihre Programme angeschaut. Das Ergebnis war: Die Partei, die mir 100-prozentig entspricht, würde nur aus mir bestehen. Für die SPD habe ich mich dann aus drei Gründen entschieden: wegen ihrer Geschichte, ihres Kampf für die Demokratie und für soziale Gerechtigkeit. Und wegen des Eindrucks, den Kurt Schumacher im Mai 1949 auf einer Kundgebung in Rosenheim gemacht hatte.
Sie bezeichnen sich gerade als Pedanten. Seit wann wissen Sie, dass Sie einer sind?
Seit meiner Schulzeit habe ich gemerkt, dass ich es gerne genau habe. Deshalb hat man mir später den Beinamen „Oberlehrer“ gegeben. Aber es gibt schlimmere Beinamen.
Haben Sie sich über Helmut Kohl in Ihrem politischen Leben mehr geärgert als über Ihre Nachfolger Lafontaine und Schröder?
Über Schröder habe ich mich in seiner Zeit als Kanzler nicht geärgert, im Gegenteil. Vorher gab es mitunter Meinungsverschiedenheiten. Bei dem Saarländer unterscheide ich zwei Personen. Da ist der eine, der hat als OB von Saarbrücken und als Ministerpräsident im Saarland gute Arbeit geleistet. Er ist mit seinem Anschlag in beachtlicher Weise umgegangen, und er hat einen wichtigen Beitrag zum Wahlerfolg 1998 geleistet. Aber dann gibt es den anderen.
Benutzen Sie den Namen Lafontaine nicht mehr?
Man versteht ja auch so, wen ich meine. Dieser andere hat den Parteivorsitz von einem auf den anderen Tag weggeworfen wie ein dreckiges Hemd und dann ausgerechnet in der Bildzeitung die eigene Partei aufs Schärfste kritisiert. Das tut man nicht. Deshalb ist mein Ärger über ihn unverändert groß.
Was war Ihr bester Tag als Sozi?
Für mich, nicht nur als Sozialdemokrat, war das der 26. August 1972 – die Eröffnung der Olympischen Spiele. Das war ein einmaliges Erlebnis, ungeachtet des schweren Schattens, der dann durchs Attentat auf die Spiele gefallen ist.
Glauben Sie, dass München die Spiele erneut bekommt?
Ich halte es durchaus für möglich. München hat Chancen im Vergleich zu den Mitbewerbern. Und die Bewerbung erscheint mir auch als ökologisch vertretbar. Hat sie Erfolg, hätte das für München ein weiteres Mal gute Auswirkungen.
Wie schätzen Sie die Akzeptanz in der Bevölkerung ein - im Vergleich zu früher?
Damals war die Zustimmung sehr breit. Aber auch heute stimmt offenbar eine beträchtliche Mehrheit zu.
Eines noch: Oft sind ältere Geschwister Leitbild für jüngere. Ihr Bruder Bernhard hat nicht, wie Sie, in der SPD Karriere gemacht, sondern in der CDU. Was, bitte, ist in Familie Vogel schief gelaufen?
Da ist nichts schief gelaufen. Immerhin haben wir uns beide fürs Gemeinwesen engagiert. Und bei allen politischen Differenzen besteht zwischen uns Grundkonsens und ein wechselseitiger Respekt.
Interview: Julia Lenders, Michael Schilling.