Guido Westerwelle: Spaßvogel? Volkstribun!
BERLIN - Warum wählen die Deutschen gerade in der größten Krise die FDP? Auch Experten finden es paradox – und dennoch nicht verwunderlich.
Deutschland steckt mitten in der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Ausgelöst wurde sie durch marktradikale Exzesse, habgierige Banker, waghalsige Spekulanten. Ausgerechnet in dieser Zeit ist die FDP der große Gewinner der Bundestagswahl. „Paradox“ findet das Linken-Chef Oskar Lafontaine. Den „deutschen Widerspruch“, nennt es die linke französische Zeitung Libération. Woher kommt der Erfolg?
Die Menschen wollen die Krise verdrängen. „Es gibt zwei Strategien, mit der Krise umzugehen“, sagt Stephan Grünewald vom Meinungsforschungsinstitut Rheingold. „Aktionismus oder Verdrängung.“ Noch sei die Krise bei den Menschen nicht richtig angekommen: „Im vergangenen Jahr haben sich die Lebenshaltungskosten deutlich gesenkt, es gab billige Autos, Benzin ist so günstig wie lange nicht. Die Verdrängung der Krise hat obsiegt.“ Merkel stehe für Kontinuität und Beschwichtigung. Gleichzeitig habe die Krise das Vertrauen der Menschen in übergeordnete Instanzen wie Wirtschaft und Staat verloren. Für diese Wähler wirke die FDP mit ihrem auf eigene Leistung und Selbsthilfe ausgerichteten Profil attraktiv.
Die FDP wird nicht mehr als Partei der sozialen Kälte wahrgenommen. „Die FDP hat einen Bedeutungswandel hingelegt“, sagt Grünewald. „Sie gilt jetzt als die Partei des neuen kleinen Mannes, des Mittelständlers.“ Wie früher die Arbeiterparteien den Arbeiter vor Ausbeutung schützten, schützt die FDP jetzt vom Staat geschröpfte Angestellte. Auch Guido Westerwelle hat einen Wandel durchgemacht. Er ist nicht mehr der kalte Karrierist und Spaßvogel. In Umfragen wurde er deutlich positiver bewertet. Er sei jetzt eine Art Volkstribun, so Grünewald.
Die große Koalition hat der FDP genutzt. Nach ihrem Trauma von 2005, als Merkel auf Marktradikalismus setzte und so fast den Wahlsieg verspielte, betrieb sie fortan die Sozialdemokratisierung der Union. Hatte sie beim Leipziger Parteitag 2005 die Wähler der Mitte verschreckt, vergraulte sie jetzt den wirtschaftsliberalen Flügel – der sich der FDP zugewendet hat. Nach Ansicht des Politologen Oskar Niedermayer von der FU Berlin wird Merkel sich wegen dieses Leipzig-Traumas aber hüten, in der jetzigen schwarz-gelben Koalition marktradikale Gemeinheiten zu begehen.
Die FDP hat viele Wähler inhaltlich überzeugt. „Die FDP hatte mit Steuern und Wirtschaft genau das richtige Thema“, sagt Richard Hilmer von Infratest Dimap. „Die Liberalen haben in diesem Wahlkampf die inhaltlich klarste Linie vertreten“, sagt Niedermayer. „Die FDP hat konsequent ihre Steuersenkungspolitik vertreten.“ Auch die klare Festlegung auf Schwarz-Gelb habe der Partei am Ende genützt: Denn vielen Unionswählern, die Schwarz-Gelb wollten, blieb aus taktischen Gründen nichts anderes übrig als FDP zu wählen, sagt Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen. Die Steuersenkungsversprechen wird die Partei allerdings nicht einhalten können, glaubt Oskar Niedermayer: „Die FDP hat bei ihren Wählern extrem hohe Erwartungen geweckt. Sie wird in dieser Regierung Federn lassen müssen.“ Annette Zoch