Größte Wählergruppe: Wie Senioren wählen
Peter Nitschke ist Professor für Politikwissenschaft an der Uni Vechta und Mitglied der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens.
Es ist ein Novum in der bundesdeutschen Geschichte: Bei der Bundestagswahl am 24. September werden Senioren erstmals die größte Wählergruppe stellen: Laut dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft machen die über 60-Jährigen 36,1 Prozent der Stimmberechtigten aus. Die 40- bis 60-Jährigen kommen auf 34,7, die Jüngeren auf etwa 29 Prozent. In der AZ beleuchtet ein Experte die Folgen dieser demografischen Entwicklung.
AZ: Herr Nitschke, in diesem Jahr bilden die Über-60-Jährigen erstmals die stärkste Wählergruppe. Was bedeutet das für die Politik?
PETER NITSCHKE: Dass die Parteien - besonders die großen Volksparteien - ein sehr unspektakuläres Angebot machen, das auf diese Zielgruppe hin ausgerichtet ist.
Was meinen Sie damit?
Was benötigen Menschen, die über 60 sind, für ihre Lebensperspektive? Sicherheit, Sicherheit und nochmals Sicherheit. Und das kann man auf alle Lebensbereiche ausdehnen. Nicht nur im Bereich Innere Sicherheit, sondern vor allem Sozial- und Wohlfahrtsvorsorge.
Was gerät in den Hintergrund, wenn Sicherheit im Fokus steht?
Bildung. Es wird zwar immer von allen Parteien so getan, als sei Bildung das Wichtigste und das ist auch richtig. Für eine Industrienation, die sich Exportweltmeister rühmen darf, ist sie ein zentrales strategisches Gut. Aber letztendlich wird nicht ausreichend in Bildung investiert. Und das schon seit 20, 30 Jahren nicht.
Kann es gefährlich sein, wenn die Älteren mehr zu sagen haben als die Jüngeren?
Tendenziell haben sie das immer schon gemacht. Wenn wir mal in die Antike zurückgehen, war Platon der Meinung, dass man erst ab 50 politikfähig sei, weil man davor keine vernünftigen Entscheidungen treffen könne. Letztendlich gibt es auch in allen Parteien in Deutschland, aber auch weltweit betrachtet, eher älteres Personal in entscheidender Führungsverantwortung. Das ändert aber nichts daran, dass die Frage berechtigt ist: Können diese Älteren die Sorgen, Nöte und Bedürfnisse der Jüngeren verstehen - und wollen sie das überhaupt?
Und: Wollen sie das?
Zumindest die Parteipolitiker tun immer so, als würden sie verstehen wollen. Man muss auch umgekehrt sagen: Es gibt einen gewissen Jugendwahn, also den Trend, den jeweils neuen Modethemen, die ja immer von jungen Menschen kommen, nachzulaufen. Aber das ist relativ oberflächlich. Tatsächlich zählt am Ende die solideste Wählerklientel. Und das sind eben nicht die jungen Menschen, die heute mal so wählen und morgen so.
Werben die Parteien genug um ihre Seniorenwähler?
Die kleineren Parteien machen das nicht so stark. FDP und Grüne brüsten sich ja sogar damit, dass sie an die junge Generation herantreten. Ob sie das erfolgreich machen, sei dahingestellt - bei Herrn Lindner sieht das im Augenblick tatsächlich so aus. Die Grünen dagegen sind im Grunde mit ihrer Klientel älter geworden. Die großen Parteien werben und haben stabile Wählerschichten im Seniorenumfeld, das gilt wahrscheinlich am Stärksten für die CDU. Und da sind wir wieder beim Thema Sicherheit.
Wie wird geworben?
Das ist ja das Interessante: Alle Parteistrategen wissen, dass das ein wichtiges Wählerquorum ist. Deutschland hat etwa so viele Rentner und Pensionäre wie Australien Einwohner. Aber man macht das nicht explizit, mehr indirekt, etwa mit diversen Seniorenbetreuungsprogrammen.
Warum spricht man Senioren nicht offener an?
Weil das den Generationenkonflikt viel stärker hervortreten lassen würde, was dann eine Gefahr mit sich bringt. Weil alles, was - wie im englischen System - einen ganz harten Wahlkampf erzeugen würde, zu einer Verunsicherung gerade dieser Alterskohorten führen würde. Und das kann man nicht riskieren.
Das Thema Rente beschäftigt Ältere und Jüngere. Wie muss die Politik damit umgehen?
Sie hätte schon längst damit umgehen müssen. Der Druck unseres Modells - dass die jeweils arbeitende Generation die aus der Arbeit ausgeschiedene versorgen wird - wird sich weiter verstärken. Und das wird die jüngere Generation ab einem Tag X so nicht mehr finanzieren können und wollen.
Und dann?
Dann stellt sich die Frage, was sie tut. Ich kenne Aussagen von Studierenden, die denken: Wenn Leute gut sind, dann wandern sie aus, suchen sich ein Land, das eine jüngere Gesellschaft hat oder wo man für das, was man leistet, mehr zurückbekommt, als es in eine soziale Umverteilungsquotierung zu stecken.
Es ist erwiesen, dass Ältere regelmäßiger wählen. Wieso?
Die Senioren haben eine existenzielle Erfahrung: die Zeit. Man hat nur noch eine begrenzte Lebensdauer und die will man sinnvoll nutzen. Beim Brexit hat die jüngere Generation überproportional nicht gewählt, weil ihr das Thema egal war oder weil sie es nicht verstanden hat - und sich hinterher beschwert. Da kann man nur sagen: Wenn der nächste Twitter-Account wichtiger war als die Selbstaufklärung über das, was in eigener Sache für die Karriere ansteht, kann man den Leuten auch nicht helfen. Bei den Älteren ist das anders.
Aber denken Senioren nicht trotzdem an ihre Kinder und Enkel?
Natürlich. Es ist ja nicht nur der Staat, der für soziale Sicherheit sorgt, sondern auch die Familienbande. Und da geht sehr viel von dieser Großelterngeneration nicht nur in die Kinder- sondern auch in die Enkelkindergeneration über. Das stabilisiert den sozialen Rückhalt. Eben deshalb schwingt bei den älteren Wählerinnen und Wählern ein ganz anderes Erfahrungsbewusstsein mit. Wenn man zur Wahl geht, dann geht es zum Beispiel auch um Ausbildungschancen. Nicht, weil man selbst betroffen ist, sondern dass es die geliebten Enkel sind, die das vielleicht einmal ausbaden müssen.
Umfrage: Wie Senioren wählen - und wem sie vertrauen
Das Online-Portal 50plus-Treff.de mit Sitz in München hat unter seinen 480.000 Mitgliedern knapp 2.100 im Alter von 45 bis über 80 in einer repräsentativen Umfrage befragt. Der Großteil der Antwortenden ist zwischen 55 und 74 Jahre alt (82 Prozent).
Dabei kam heraus: Die Senioren sind sehr zuverlässige Wähler. Fast 90 Prozent gaben an, wählen zu gehen, sieben Prozent wollen "vielleicht" wählen gehen. Nur drei Prozent möchten der Bundestagswahl lieber fern bleiben. Bei der Frage, welche Partei die Senioren wählen möchten, gewinnt keine mit großem Abstand: 23,5 Prozent würden die Union wählen, 20,3 Prozent die SPD – damit rücken die Spitzenparteien viel näher zusammen als in anderen aktuellen Umfragen.
Groß ist bei den 50plus-Befragten die Zustimmung zur AfD: 18, 7 Prozent würde diese laut Umfrage erhalten. Bizarr ist, dass gleichzeitig die wenigsten der AfD Handlungsfähigkeit beim Regieren zutrauen: 53,5 Prozent glauben nicht, dass diese Partei regieren kann. Am zweitwenigsten trauen die Befragten den Grünen (15 Prozent) die Regierungsarbeit zu.
Bei den Spitzenkandidaten, denen Regierungsfähigkeit zugetraut wird, landet Bundeskanzlerin Angela Merkel mit 34,8 Prozent auf dem ersten Platz. Allerdings traut fast ein Fünftel keinem der Kandidaten Regierungsfähigkeit zu. Martin Schulz (SPD) kommt auf 16, 9 Prozent, gefolgt von Sahra Wagenknecht (Linke, 8,9 Prozent).
Insgesamt stellen die Befragten der derzeitigen Regierung mit einem Notenschnitt von 3,9 ein schlechtes Zeugnis aus. Knapp 67 Prozent der Befragten machen sich zudem Sorgen um die Zukunft des Landes. Die drei wichtigsten Themen für die Senioren sind Soziale Gerechtigkeit, Innere Sicherheit sowie Einwanderung und Integration.
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