"Garantiert kein Verlierer": Warum hören Sie mit den GDL-Streiks nicht auf, Herr Weselsky?

Der 65-jährige Claus Weselsky ist seit 2018 Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Der Sohn einer Arbeiterfamilie ist 1959 in Dresden geboren und in der DDR aufgewachsen. Er gilt als Hardliner unter den Gewerkschaftern und attackiert regelmäßig die Führungsriege der Deutschen Bahn. Die AZ hat mit ihm über den aktuellen Streik gesprochen.
AZ: Herr Weselsky, Streiks sind zum Politikum geworden. Viele Menschen sind genervt von Ihnen und Ihrer Gewerkschaft. Jetzt sprechen Sie auch noch von Wellenstreiks. Überschreiten Sie nicht langsam eine Rote Linie?
CLAUS WESELSKY: Die Deutsche Bahn überschreitet die Rote Linie. Die Veränderung unserer Vorgehensweise ist eine Folge der Verweigerungshaltung des Bahnvorstandes.
Wieso haben Sie nicht weiterverhandelt?
Wir haben bis letzte Woche Donnerstag verhandelt und erst dann die Verhandlungen beendet, weil wir festgestellt haben, dass wir mit der Arbeitszeitabsenkung auf 35 Stunden pro Woche und vielen anderen Elementen nicht zueinanderkommen.
Die Verhandlungen mit der Bahn laufen teils Tage, manchmal auch nur ein paar Stunden. Sind Sie zu kompromisslos?
Nein. Wir haben Kompromisse mit 28 Eisenbahnverkehrsunternehmen in diesem Land erzielen können. Mit vielen davon sogar ohne jegliche Arbeitskampfmaßnahmen. Weil wir alle zusammen eine Chance darin sehen, in einem Schichtarbeitssystem mit der 35-Stunden-Woche mehr Lebensqualität für die Beschäftigten zu generieren. Und weil wir auch wissen, dass viel zu wenig Menschen im System sind und die Bereitschaft, in Schichtarbeit einzutreten, ohnehin gering ist. Kurz gesagt, wollen wir die Arbeitsqualität im Eisenbahnsystem verbessern. Dass die DB bei der Absenkung der Arbeitszeit auf 35 Stunden nicht mitmachen will – dafür gibt es kaum vernünftige Gründe. Die möchte einfach nur unbedingt etwas anders machen, weil sie weiß, dass wir – laut Vereinbarung – dann mit den anderen Unternehmen neu verhandeln müssen. Wir haben Zugeständnisse gemacht, aber vonseiten der Bahn gab es nie ein Angebot, das über eine Stunde Absenkung hinaus gegangen ist und eine weitere halbe Stunde als Wahlmodell.
Ist diese Vereinbarung mit den kleineren Unternehmen der Grund dafür, dass Sie so sehr an der 35-Stunden-Woche festhalten? Sind Sie besorgt, als Verlierer dazustehen?
Nein, ich halte an dem Punkt fest, weil die DB nicht bereit ist, eine Arbeitszeitabsenkung auf 35 Stunden anzunehmen – egal in welchen Schrittfolgen und egal mit wie viel Vorlauf. Ich bin auch garantiert kein Verlierer, wenn wir mit der DB ein abweichendes Absenkungsszenario machen und das mit den anderen dann durchziehen. Ich bin dann immer noch derjenige, der die 35-Stunden-Woche eingeführt hat – auch wenn es vier Jahre dauert, bis man dort angekommen ist. Wir sind ohnehin diejenigen, die die Bedingungen schon stark verbessert haben. Diese Vereinbarung sind wir absichtlich mit den kleineren Unternehmen eingegangen. Das hat etwas damit zu tun, dass wir Wettbewerbsgleichheit benötigen, ansonsten wird einer bevorteilt.
GDL-Chef Claus Weselsky zu den Wellenstreiks: "Ziel ist, die Planbarkeit für die Deutsche Bahn zu vermiesen"
Was kommt mit den Wellenstreiks auf uns zu?
Wir haben bisher immer eine Ankündigungsfrist von 48 Stunden oder mehr eingehalten. Die nächste Maßnahme werden wir nicht mehr so frühzeitig ansagen. Dennoch werden wir sie rechtzeitig bekannt geben, so dass sich die Reisenden auf die Ausfälle einstellen können.
Wie viel Zeit bleibt den Reisenden dann?
Die Länge der Vorankündigung machen wir an der Dauer des Arbeitskampfes fest, der dann folgt. Würden wir das vorher verraten, würden wir unsere Strategie offenlegen. Ziel ist, die Planbarkeit für die Deutsche Bahn zu vermiesen.
GDL-Chef Weselsky enthüllt, was für einen fatalen Fehler die Bahn 1993 gemacht hat
Das würde die Wut in der Bevölkerung wohl verstärken und die Rufe aus der Politik nach einer Verschärfung des Streikrechts werden ohnehin lauter. Laufen Sie nicht Gefahr, dass Arbeitskämpfe in Zukunft ganz verrufen sind und die Rechte von Gewerkschaften eingeschränkt werden?
Wie die Eisenbahn ohne Streiks funktioniert, erleben wir tagtäglich – unzuverlässig und unpünktlich. Dieselben, die damals die Bahn privatisiert haben und an die Börse bringen wollten, sind die, die jetzt behaupten, die Daseinsvorsorge wäre allumfänglich und jeder hätte das Recht auf ein Verkehrsmittel. Das war möglich, als bis 1993 alle Lokomotivführer und Fahrdienstleiter noch verbeamtet waren – aber dann kam der Wettbewerb.
Streikrecht in Gefahr? "Gewerkschaften werden sich dagegen wehren"
Macht Ihnen die Entwicklung als Gewerkschafter keine Sorgen?
Mir macht das keine Sorgen, weil sich die Gewerkschaften insgesamt dagegen wehren werden.
In dieser Woche haben Sie zusammen mit Verdi das halbe Land lahmgelegt. Denken Sie, so Verständnis in der Bevölkerung zu bekommen?
Tarifkonflikte sind an verschiedenen Stellen nicht miteinander abstimmbar, und das machen wir auch nicht. Das ist Zufall, und am Ende des Tages können wir unsere Auseinandersetzung nicht anhalten oder vertagen, nur weil Verdi gerade streikt.
Einigung mit der Deutschen Bahn vor Ostern? "Optimistisch, dass der Bahnvorstand einlenkt"
Wie optimistisch sind Sie, dass Sie sich vor den Osterferien noch mit der DB einigen können?
Ich bin immer beruflich optimistisch, dass der Bahnvorstand einlenkt und versteht, dass seine eigenen Mitarbeiter gegen ihn angetreten sind.
Und wie schätzen Sie die Kompromissbereitschaft des Bahnmanagements ein?
Das Management hat sich voriges Jahr das Grundgehalt um 14 Prozent erhöht und Millionen-Boni bezogen. Und jetzt, wo es um die Einkommens- und Arbeitszeitverbesserung der Mitarbeiter geht, geht plötzlich nichts mehr. Deswegen gehen die Kolleginnen und Kollegen mit Vehemenz in den Arbeitskampf. Ich gehe davon aus, dass unsere Arbeitskämpfe wirksam sind, dass sich der Druck für alle Beteiligten erhöht, und dass auch die Deutsche Bahn erkennen muss, dass sie das nicht erfolgreich aussitzen kann.
Das hört sich tatsächlich optimistisch an. Haben wir das Ganze also bald überstanden?
Ich will nicht darüber sprechen, wo wir stehen. Ich will darüber sprechen, dass es zu mindestens 50 Prozent die Schuld des DB-Managements ist, dass die Reisenden so beeinträchtigt werden. Es gibt keine vernünftigen Gründe diesen Weg, den andere Unternehmen gegangen sind, nicht auch zu gehen.
Sie stehen von allen Seiten massiv unter Druck. Wird es wirklich zu Wellenstreiks kommen, oder ist das jetzt nur das letzte große Druckmittel, um in die finalen Verhandlungen zu starten?
Die Systematik von Tarifkonflikten ist gepflastert mit Überraschungen und auch Enttäuschungen – und mehr kann ich nicht verkünden. Wir werden die Menschen auch diesmal rechtzeitig informieren.
"Ich würde die Deutsche Bahn AG aufsplitten"
Wer macht eigentlich den schlechteren Job: die deutschen Verkehrspolitiker oder die Vorstände der Deutschen Bahn?
Eindeutig die Vorstände der Deutschen Bahn AG.
Und welchen Job davon würden Sie besser machen?
Ich würde die Deutsche Bahn AG in das aufsplitten, was es tatsächlich ist, und die Monopolstrukturen der DB InfraGO, DB Energie und DB Vertrieb mit einer neuen gesellschaftsrechtlichen Verankerung – einer GmbH – in der Verantwortung des Bundes, des Verkehrsministeriums oder einer neu zu schaffenden Mobilitätsbehörde legen. Erst dann kann unser aller Steuergeld dort hineinfließen, ohne dass es im Ausland verjuxt wird.
Claus Weselsky über Zukunft in der Politik: "Man kann mich nur mit Sachargumenten überzeugen"
Apropos Job – dieses Jahr machen Sie als GDL-Chef Schluss. In der Politik scheinen polarisierende Persönlichkeiten derzeit im Trend zu sein - wären Sie dafür nicht prädestiniert?
Ich habe eine Zeit lang überlegt, in die Politik zu gehen, aber festgestellt, dass den gewählten Volksvertretern über die Parteidisziplin eine Meinung vorgegeben wird und das ist mit mir nicht zu machen. Man kann mich nur mit Sachargumenten überzeugen. Aber auch zur Situation bei der DB sind Hunderte Argumente vorgebracht worden, um Veränderungen herbeizuführen, und sie haben nicht stattgefunden. Der Vorstand der DB bestimmt die Richtung und hat genug Macht und Einfluss, um selbst Politiker zu beeinflussen, und das hat mich davon weggeführt.
Wollen Sie im September wirklich in Rente gehen und die Füße stillhalten?
Nein, ich bin ja noch bis 2027 stellvertretender Bundesvorsitzender im Deutschen Beamtenbund und ich habe noch eine Reihe von Aufgaben. Lediglich für die GDL stehe ich nur noch im Hintergrund zur Verfügung.
Trotz Mitgliedschaft: "Die CDU die Privatisierung der Bahn und den Niedergang der Eisenbahn-Infrastruktur zu verantworten"
Sie sagten kürzlich: "Es ist die Union gewesen, die zugelassen hat, dass der Bahnvorstand das Netz in Grund und Boden gefahren hat".
Ja, natürlich war das die CDU. Wie viele Jahre Große Koalition hatten wir? Und wie viele Jahre vorher hat sie mit der FDP koaliert? Deswegen hat die CDU die Privatisierung der Bahn und den Niedergang der Eisenbahn-Infrastruktur zu verantworten. Die haben da nur zugeschaut.
Sie sind dennoch seit 2007 Mitglied in der CDU – wieso eigentlich?
Ich bin ein konservativer Mensch und von der Wertevorstellung her war das damals die einzige Partei, die ich mir vorstellen konnte.
Bleiben Sie in der CDU?
Das werde ich nicht beantworten.
Anwerbeversuche anderer Parteien: "Ich bin zu geradlinig"
Wie oft haben andere Parteien schon versucht, sie anzuwerben?
Eher selten – ich bin zu geradlinig. Wenn man sich die jungen Menschen anschaut, die als Berufspolitiker vor uns sitzen und uns regieren, stellt man doch fest: Da muss man eine Wirbelsäule wie ein Gartenschlauch haben und sich jeden Tag eine neue Meinung zurecht machen. Das ist bestimmt nicht mein Ding. Ich bin aber natürlich von verschiedensten Stellen schon angefragt worden.
Und da hat Sie niemand überzeugen können?
Zu Parteizugehörigkeiten äußere ich mich nicht. Ich bin Vorsitzender einer Gewerkschaft und habe, glaube ich, bisher einen guten Job gemacht.
"Die sagen, solche konsequenten Menschen wie mich braucht es in der Politik"
Viele halten Sie für einen geeigneten Politiker.
Das wünschen sich viele. Die sagen, solche konsequenten Menschen wie mich braucht es in der Politik. Nur Sachargumente kommen mir eben in dieser Gesellschaft zu kurz und diese Entwicklung ist mir zuwider. Deshalb sehe ich mich gesellschaftlich zwar noch im Engagement, aber nicht an jeder Stelle und nicht mehr zu 150 Prozent. Es gibt außerdem noch viele andere Dinge, die ich versäumt habe und gerne nachholen würde.
Sie sind die derzeit umstrittenste und eine der bekanntesten Persönlichkeiten dieses Landes. Genießen Sie diese Rolle?
Nein, das ist kein Genuss, wenn ich so in die Schusslinie gerate und in solch bewegten Zeiten an der Spitze einer Gewerkschaft stehen und die Interessen der Mitglieder vertreten muss. Aber das gehört eben dazu – ich kann nicht bloß Vorsitzender sein, wenn die Sonne scheint. Es gehört auch dazu, dass ich einen Auftrag von den Mitgliedern habe. Wir hatten eine Urabstimmung und 97 Prozent unserer Mitglieder haben sich entschieden, in den Arbeitskampf zu gehen und zu kämpfen. Diesen Auftrag umzusetzen, ist meine Pflicht. Natürlich stehe ich auch dahinter.
Dennoch scheint es so, als seien Sie besonders medienpräsent.
Die Frage, ob ich eine oder zehn Kameras vor mir habe, ist irrelevant. Das Interesse der Medien ist so groß, weil wir im Streik eine so große Wirkung haben und nicht wegen mir. Es ist nicht mein großer Wille, vor der Kamera zu stehen.
Egotrip? "Langsam ein abgedroschenes Argument"
Wie schaffen Sie es, auf dem Boden zu bleiben?
Durch Menschen im Hintergrund, die mich auf Fehler hinweisen und mir die Meinung sagen. Abgehobenheit kann man mir nicht unterstellen. Mir geht es sicher besser als manchen Lokführern oder Zugbegleitern, aber ich habe nie vergessen, wie es in der Zeit war, als ich noch Schichten gefahren bin. Ich habe zudem genügend Menschen um mich, die mir schildern, wie es ihnen bei der Arbeit geht.
Manch einer wirft Ihnen einen Egotrip vor, um vor der Rente noch mal etwas zu hinterlassen – ist da was dran?
Das hängt man mir wiederholt an – ist aber langsam ein abgedroschenes Argument. Was ich hinterlassen will, ist eine streitbare Organisation, die sich für das Eisenbahnsystem und für die Arbeitsbedingungen der Eisenbahnerinnen und Eisenbahner einsetzt. Das hat schon jetzt dazu geführt, dass wir immer mehr Mitgliederzuwachs haben. Dass meine letzte Tarifrunde derartig eskaliert, war vorherzusehen ab dem Zeitpunkt, an dem wir beschlossen haben, den Einstieg in die 35-Stunden-Woche durchzuziehen. Da war uns klar, dass wir das nicht geschenkt bekommen und dass es in einer harten Auseinandersetzung enden wird.