Frank-Walter Steinmeier: Der Kandidat unplugged

BERLIN - Und plötzlich ist er ein echter Sozi: Der steife Außenminister verwandelt sich auf dem SPD-Parteitag nun doch in einen hitzigen Wahlkämpfer mit eigenem Profil. Die Partei ist entschlossen,ihn zu feiern. Sie hat auch keine andere Chance.
Sage bitte keiner, Deutschlands Sozialdemokraten hätten keine Selbstironie mehr. Kurz bevor Parteichef Franz Müntefering Seit an Seit mit dem zuletzt arg gerupften Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier am Sonntag ins Berliner Estrel-Kongresszentrum einzieht, plätschert im Saal chillige Musik. Und zwar ein Titel der Deutschrockband „Die Sterne“. Da heißt es: „Wo fing das an und wann? / Was hat dich irritiert? / Was hat dich bloß so ruiniert?“
Der Titel passt verdammt gut zur derzeitigen Seelenlage vieler Genossen. 20,8 Prozent hat die SPD bei der Europawahl eingefahren. Das Politbarometer misst Tiefststände für die SPD, die Popularitätswerte ihrer Vorderen sinken. Steinmeier steht in den kommenden 100 Tagen bis zur Bundestagswahl vor einer Herkulesaufgabe. „Der Walter isch a arme Sau“, sagen zwei schwäbische Sozis auf dem Weg zur Halle. Und Ex-SPD-General Klaus-Uwe Benneter mahnt: „Frank muss jetzt die Ärmel hochkrempeln wie früher Gerhard Schröder.“
500 Delegierte spenden fleißig Zwischenapplaus
Zunächst einmal: Steinmeier macht genau das nicht. Während seiner Rede, die knapp 70 Minuten dauert und am Ende zehn Minunten bejubelt wird, krempelt er weder die Ärmel hoch noch legt er sein staatsmännisches Sakko ab. Der Kandidat versucht nicht zu schrödern, sondern seinen eigenen Stil zu finden. Er will steinmeiern. Hat häufig eine Hand in der Hosentasche, setzt eine Art Frank-Elstner-Gedächtnislächeln auf, kämpft sich mit hoher, heiserer Stimme durch sein Manuskript. Und kommt damit bei seinen Genossen im Saal prima an. Die 500 Delegierten, die für nur sechs Stunden Parteitag extra nach Berlin gereist sind, spenden kräftigen Zwischenapplaus, recken Steinmeier-Schilder hoch. Die Partei ist finster entschlossen, ihren Frontmann enthusiastisch zu feiern. Eine andere Chance hat sie auch nicht.
Parteichef Franz Müntefering beschränkt sich auf ein knappes Grußwort: „Manche draußen glauben, wir wären im Staub oder auf den Knien“, sagt er. „Aber wir lassen uns nicht aus der Kurve tragen. Sozialdemokraten haben klaren Kopf und heißes Herz.“
Die puristische Inszenierung macht klar: Niemand soll Steinmeier die Show stehlen. Altkanzler Gerhard Schröder sitzt zwar in Reihe eins, reden aber darf er nicht. Selbst das 57-seitige Regierungsprogramm wird im Eiltempo einstimmig verabschiedet (Info).
Lange hat Steinmeier gemeinsam mit seinen Beratern an seiner Rede gefeilt – was man ihr anmerkt. Der Außenminister verwandelt sich tatsächlich in einen hitzigen Wahlkämpfer. Inszeniert sich als volksnaher Sozi „aus einem Elternhaus ohne Klavier und Bibliothek“, dem zwar mal das Fremdwort „Nonchalance“ rausrutscht, der aber viel lieber ein deftiges „verflucht noch mal“ ausstößt. „Wir können andere nur überzeugen, wenn wir selbst von uns überzeugt sind“, recycelt er ein altes Lafontaine-Wort – und brüllt: „Ich will Kanzler aller Deutschen werden.“
Er will "Brücken über die Krise bauen"
Am 27. September gehe es um eine „Richtungsentscheidung für die nächsten zehn Jahre“, um eine „neue Zeit“, malt Steinmeier schwarz-weiß: „Wir oder Schwarz-Gelb!“ Union und FDP stünden für Marktradikalismus, Privilegien für wenige und eine Energiewende rückwärts, während die SPD für soziale Gerechtigkeit, Chancen für alle und erneuerbare Energien kämpfe. Mit den größten Beifall bekommt er für den Satz: „Die Ideologie, die uns in diese Krise geführt hat, kann doch nicht die Antwort auf diese Krise sein.“
Auf deftige Verbalattacken gegen CSU-Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg verzichtet er. Stattdessen setzt er mit dem Florett eine Spitze gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel: Während die CDU-Chefin nach dem Motto „abwarten, abgucken und dann draufsetzen“ die Republik moderiere, stehe er für „Führung“. Er wolle „Brücken über die Krise“ bauen, sagt Steinmeier und zitiert Willy Brandt: „Alle Politik, die nicht den Menschen dient, ist des Teufels.“
„Frank-Walter Steinmeier hat heute den Wandel vom Krisenmanager zum Kümmerer geschafft“, sagt Bayerns designierter SPD-Chef Florian Pronold anschließend mit leuchtenden Augen zur AZ. Fragt sich nur, ob das im September auch die Bürger so sehen. Immerhin regiert die SPD seit 1998 nonstop mit – und Frank-Walter Steinmeier ist nicht Oppositionsführer, sondern Vizekanzler.
Markus Jox