Feiner Unterschied: Für eine neue Flüchtlingspolitik

AZ-Vizechefredakteur Georg Thanscheidt über die deutsche Flüchtlingspolitik und die Blindheit gegenüber der eigenen Geschichte.
München - Die deutsche und erst recht die europäische Einwanderungspolitik ist ein einziges Flickwerk – mit verheerenden, ja tödlichen Konsequenzen. In diesem wichtigen Politikfeld stehen Anforderungen und Annahmen scheinbar widersprüchlich und unversöhnlich nebeneinander – dabei bilden sie in Wahrheit zwei Seiten einer einzigen Medaille.
Zum Beispiel die Tatsache, dass wir in Deutschland auf Einwanderung angewiesen sind, um auf Dauer unseren Lebensstandard und vor allem unsere Sozialsysteme zu erhalten. Und doch alles versuchen, damit möglichst wenige Einwanderer nach Deutschland kommen. Zu diesem Zweck hat Deutschland sich einen Kordon aus „sicheren Drittstaaten“ zugelegt, so dass die Boat-People schon auf Sylt statt auf Lampedusa anlanden müssten, um hier Aufnahme zu finden.
Wir brauchen Einwanderer – und tun alles, um sie fernzuhalten
Zugleich unterscheidet der Deutsche fein – zu fein – zwischen Menschen, die aus politischen Gründen ihr Land verlassen müssen, und Menschen, die aus anderen Gründen fliehen. Dabei gibt es keinen Grund, diese Menschen verächtlich „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu nennen. Es sei denn man ist so blind gegenüber der eigenen Geschichte, dass man Fakten ignoriert: Auch die deutschen Einwanderer in Amerika, die gelehrten Nordlichter im München des 19. Jahrhunderts oder die polnischen Bergarbeiter in Westfalen Anfang des 20. Jahrhunderts waren Wirtschaftsflüchtlinge.
Solche Wanderungsbewegungen sind historische Normalität – es gibt keinen Grund, sie zu kriminalisieren. Dem muss die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik Rechnung tragen. Jetzt!