Experten warnen vor Herbeireden von Unruhen

Von «unverantwortlich» bis «Panikmache» reichen die Reaktionen: Wo DGB-Chef Sommer und SPD-Politikerin Schwan drohende soziale Unruhen sehen, raten Experten zu Besonnenheit. Mit den 30ern sei die Situation nicht zu vergleichen.
von  Abendzeitung
Solche Bilder kennt man aus Frankreich
Solche Bilder kennt man aus Frankreich © dpa

Von «unverantwortlich» bis «Panikmache» reichen die Reaktionen: Wo DGB-Chef Sommer und SPD-Politikerin Schwan drohende soziale Unruhen sehen, raten Experten zu Besonnenheit. Mit den 30ern sei die Situation nicht zu vergleichen.

Für eine Präsidentschaftskandidatin ungewöhnlich deutlich warnt Gesine Schwan (SPD), dass sich die Wut der Menschen in den kommenden Monaten entladen könnte. Ohne raschen Hoffnungsschimmer könne die Stimmung angesichts des historischen Wirtschaftseinbruchs um sechs Prozent explosiv werden. DGB-Chef Michael Sommer geht noch einen Schritt weiter, er zieht bereits einen Vergleich zum Erstarken des Nationalsozialismus.

Der drohende Absturz sei vergleichbar mit Zahlen der Krise 1930, 1931 und 1932. Damals habe es die «bekannten Folgen» gegeben, sagt Sommer mit Hinweis auf das Erstarken der Nazis. Seit Tagen warnt er vor sozialen Unruhen. Droht Deutschland ein solches Szenario? Nein, sagt Dieter Rucht entschieden. Er ist einer der renommiertesten Wissenschaftler, wenn es um soziale Bewegungen und Proteste geht. Deutschland sei nicht Frankreich. Dort gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Unruhen in Pariser Vorstädten. Und zur Zeit greifen dort die Arbeitnehmer zu immer drastischeren Mitteln. In den vergangenen Wochen wurden Topmanager von Firmen wie Sony, Caterpillar, Scapa und 3M von aufgebrachten Arbeitnehmern stunden- und sogar tagelang festgehalten. Alle sagten nach den Geiselnahmen höhere Abfindungen bei Entlassungen zu. «Wir haben eine relativ moderate Konfliktkultur in Deutschland», sagt Rucht.

«Ganz andere Bedingungen»

Auch Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) rechnet hierzulande nicht mit solch massiven Protesten wie in Frankreich. «Wir haben natürlich ganz andere Bedingungen - zu denen zählt schon, dass Deutschland ein funktionierender Sozialstaat ist, der auch Möglichkeiten schafft, mit schwierigen Situationen klarzukommen.» Der Konjunkturchef des Münchener ifo Instituts, Kai Carstensen, rät ähnlich wie Scholz zu mehr Besonnenheit: «Wir hatten schon einmal fünf Millionen Arbeitslose. Aber wir haben ja auch ein recht gut ausgestaltetes soziales Netz, so dass am Ende niemand auf der Straße landen wird.» Man dürfe Unruhen nicht herbeireden, sagt Rucht. Er nennt das Beispiel autonomer Proteste. Gerade mit Blick auf den 1. Mai in Berlin gebe es ein kontraproduktives Szenario: «Je mehr darüber gesprochen wird, desto wahrscheinlicher werden Krawalle, da diese Gruppen so erst recht ermutigt werden.»

Zunehmende Protestdynamik

Beim globalisierungskritischen Netzwerk Attac erwartet man zwar eine zunehmende Protestdynamik, aber von drohenden Unruhen wird auch hier nicht gesprochen. «Der Unmut nimmt zu», sagt Sprecherin Frauke Distelrath. «Lange war die Krise etwas sehr Abstraktes, jetzt kommt sie aber bei immer mehr Menschen an.» So oder so: Derzeit kann kaum jemand sagen, was passieren wird, wenn es tatsächlich zu Massenentlassungen kommen soll. Bisher konzentrieren sich die Proteste vor allem darauf, den eigenen Arbeitsplatz zu sichern - siehe Opel und Schaeffler.

Studentenproteste sind lange her

Auch der Soziologe Rucht hat als Beispiel für Unruhen in der Bundesrepublik lediglich die Studentenproteste in den 60er Jahren parat. Er verweist zudem darauf, dass die abstrakte Krise die Suche nach einem Adressaten für die Proteste erschwere. In den 80er Jahren bei den Demonstrationen von Hunderttausenden im Bonner Hofgarten waren es die Regierung und die NATO, die zum Gegner ausgerufen wurden. 2003 musste die damalige Regierung von Gerhard Schröder (SPD) angesichts der Hartz IV-Reformen eine Protestwelle aushalten - von Unruhen war man jeweils weit entfernt. Die aktuellen Reaktionen von SPD und Union zeigen aber auch, dass man sich für den Fall sorgt, dass sich die Lage weiter verschlimmert. Schließlich ist vor kurzem die Regierung des einstigen Musterlandes Island aus dem Amt gefegt worden - hier hatte sich der Krisen-Protest über Monate aufgebaut. (Georg Ismar, dpa)

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