Interview

Experte Wolfgang Merkel rechnet ab: "Die Politik hat die Gesellschaft gespalten – das Vertrauen wurde verspielt"

Im Rahmen der AZ-Serie "Demokratie – aber wie?" zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes spricht Politikwissenschaftler und Demokratieforscher Wolfgang Merkel zur Zukunft der Demokratie, ihrer größten Gefährdung und den Folgen durch die Corona-Politik.
von  Niclas Vaccalluzzo
Deutschland sei eine nervöse Demokratie geworden, sagt Wolfgang Merkel zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes.
Deutschland sei eine nervöse Demokratie geworden, sagt Wolfgang Merkel zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes. © Fabian Sommer/dpa

AZ: Herr Merkel, wie steht es um unsere Demokratie?
WOLFGANG MERKEL: Meine knappe Antwort lautet: Sie ist herausgefordert, aber es geht ihr besser, als die öffentliche Debatte vermuten lässt.

Weltweit gesehen scheinen autokratische Tendenzen auf dem Vormarsch zu sein. Warum?
Es stimmt, dass wir seit 2008 eine Erosion der demokratischen Qualität sehen – weltweit. Ich sage aber nicht, dass wir eine neue Autokratie-Welle erleben. Viel eher sollten wir über den Rechtspopulismus sprechen. Solche Parteien und Kandidaten sind nicht eindeutig autokratisch, sondern semi-loyal zur Demokratie. Sie legen diese so aus, wie es ihnen passt – und zwar meist illiberal.

Wie äußert sich das konkret?
Sie richten sich gegen ethnisch andere Gruppen oder nicht-heterosexuelle Menschen. Sie sind nationalistisch und wollen die Justiz unterwandern. Das sehen wir immer wieder in Osteuropa.

Rechtspopulismus als größte Gefahr für die Demokratie: "Tragen Intoleranz und illiberales Gedankengut in die Gesellschaft"

Die größte Gefahr für die Demokratie sehen Sie also im Rechtspopulismus?
Eindeutig. Demokratien sind keine vollen Demokratien, wenn sie nicht liberal und rechtsstaatlich sind. Genau da liegt das Einfallstor von Rechtspopulisten. Sie tragen Intoleranz und illiberales Gedankengut in die Gesellschaft. Wenn Rechtspopulisten, wie in Ungarn und bis vor kurzem in Polen, an der Macht sind, verursachen sie erheblichen Schaden an der Demokratie. Diese Gefahr besteht nun auch in Westeuropa.

In Deutschland gehen tausende Menschen dagegen auf die Straße. Sind Demonstrationen ein nachhaltiges Mittel gegen diese Gefahr?
Sie sind wichtig und nachhaltig. Sie zeigen, dass liberale, solidarische und demokratische Werte in der Gesellschaft tief verankert sind. Die Zivilgesellschaft ist nach dem obskuren Potsdamer Geheimtreffen aufgestanden und hat deutlich gemacht: "bis hier hin und nicht weiter".

Welche weiteren Risiken sehen Sie für unsere Demokratie?
Es kommt noch etwas hinzu, was eine Art Dauerkritik an unserer Demokratie sein muss. Ein beachtlicher Teil der Gesellschaft nimmt an der Politik nicht mehr teil. Bürger aus den unteren sozialen Schichten gehen nicht in Parteien, Verbände, NGOs, noch wählen sie. Die Kinder dieser Schichten bleiben unten – die Aufstiegsmöglichkeiten sind gering. Die oberen 20 Prozent bleiben wiederum oben – das stört auch den Gedanken der politischen Gleichheit. Dazu kommt heute eine scharfe Polarisierung unserer Gesellschaft.

Spaltung der Gesellschaft: "Es gibt feste, verfeindete Lager – die Brücken dazwischen sind zerbrochen"

Wie ist diese entstanden?
Die Bürgerinnen und Bürger haben nicht nur wenig Vertrauen in die politischen Eliten und demokratischen Parteien, sondern sie vertrauen sich auch untereinander nicht mehr. Es gibt feste, verfeindete Lager – die Brücken dazwischen sind zerbrochen.

In Ihrem jüngsten Buch "Im Zwielicht – Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert" benennen Sie Krisen als eine der Ursachen für diese Entwicklung. Inwiefern?
Wenn sich große politische Fragen zu Krisen verdichten, entsteht Unsicherheit. Unsicherheit in der Bevölkerung über die eigene Zukunft und die der Gesellschaft. Das bildet wiederum fruchtbaren Boden für einfache Lösungsversprechen. Sie werden von rechten Populisten angeboten.

Wolfgang Merkel: "Beachtliche Teile der Bevölkerung haben weiter Vertrauen in die Politik verloren"

Hat die Corona-Krise die Demokratie nachhaltig beschädigt?
Die Politik während der Corona-Pandemie hat dazu beigetragen, die Gesellschaft zu spalten. Beachtliche Teile der Bevölkerung haben weiter Vertrauen in die Politik verloren. Die Regierung hat teils unnötig Kommandos gegeben, Freiheitsrechte eingeschränkt. Durch informelle Institutionen wie die Ministerpräsidentenkonferenz, die es im Grundgesetz gar nicht gibt, hat sie am Parlament vorbei regiert. Nun muss man sagen, dass in einer so neuartigen Krise Fehler fast unvermeidlich waren. Da ist Vertrauen verspielt worden. Die Fehler wurden auch danach nicht aufgearbeitet.

Ein großer Teil der Bevölkerung stand dennoch hinter diesen Entscheidungen. Wie erklären Sie sich das?
Das stimmt. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass ein beachtlicher Teil eben nicht dahinterstand. Dieser Teil wurde als Coronaleugner, Spinner und Demokratiefeinde beschimpft. Die Politik hat unterschätzt, wie schnell sich Lager bilden und wie schnell diese sich wechselseitig ausgrenzen. Das erleben wir wieder, wenn es darum geht, ob, wie viele und welche Waffen in die Ukraine geliefert werden sollen. Auch hier, wie in der Migrationsfrage, gibt es tief verfeindete Lager. Deutschland ist eine nervöse, polarisierte Demokratie geworden. Unsere Gesellschaft muss wieder Vertrauen untereinander lernen. Der politische Gegner darf nicht zum Feind werden. Denn: Mit Feinden spricht man nicht und schließt auch keine Kompromisse, sondern bekämpft sie, schaltet sie aus. Das schadet unserer Demokratie.

Was kann die Politik jetzt noch gegen diese neue Realität tun?
Sie muss zeigen, dass sie bereit ist, auch mit sehr unbequemen Positionen und Meinungen umzugehen. Demokratie lebt und stirbt mit der Freiheit der Meinungsäußerung – nicht nur juristisch, sondern auch faktisch. Wir müssen lernen, dass Toleranz manchmal wehtut. Wenn ich pro-Israel bin, muss ich lernen, dass es genug Menschen gibt, die das Recht haben, zu sagen, dass die israelische Regierung Kriegsverbrechen ausübt oder eben umgekehrt Menschen, die das Recht haben zu sagen, die Hamas ist eine mörderische Organisation.

Bürgerrat zu Corona-Politik? "Aufarbeitung hätte eine heilende Wirkung", findet Wolfgang Merkel

Sie schreiben im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie von der "Gefahr einer Blaupause für die nächsten Krisen durch das reduzierte Demokratieverständnis von Bürgern und Entscheidungseliten". Braucht es deshalb noch eine Aufarbeitung?
Ja, diese hätte eine heilende Wirkung. Warum nicht mit einem Bürgerrat, in dem zufällig ausgewählte Menschen über entsprechende Fragen debattieren? Das wäre eine Möglichkeit zu zeigen, wie Bürger denken, wenn sie informiert sind, zuhören müssen und frei sprechen können. Das wäre eine Form der Aufarbeitung aus der Gesellschaft heraus und nicht aus einem erneuten Experten-Ausschuss oder einer Enquete-Kommission.

Anderes Thema: Was ist für Sie eigentlich der Inbegriff der Demokratie?
Die Demokratie ist die einzige Form politischer Herrschaft, in der es gelingen kann, dass das Volk sich selbst in Freiheit regieren kann – Selbstregierung ist hier der zentrale Begriff.

Unser Grundgesetz ist nun 75 Jahre alt. Wie blicken Sie auf die nächsten 75 Jahre?
Als Politikwissenschaftler darf ich so weit nicht in die Zukunft blicken. Das Grundgesetz war ein Glücksfall in unserer Geschichte und ist eine ausgesprochen gelungene Verfassung. Ich glaube, dass diese Verfassung noch viele Jahrzehnte die politischen Geschicke in der Bundesrepublik formen und lenken kann. Ich bin nicht zu skeptisch, was unsere Demokratie angeht. Wir müssen aber selbst darauf schauen, dass sie vital bleibt und nicht ihre liberalen Gehalte verliert. Da sind Politik und Gesellschaft aufgerufen. Es liegt an uns.


Zur Person: Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel ist 1952 in Hof geboren. Bis 2020 war er Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und Demokratieforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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