Interview

Ex-Siko-Chef: "Wir werden in absehbarer Zeit nicht zur Normalität zurückkehren können"

Bald findet in München wieder die Sicherheitskonferenz statt. Wie labil ist die Lage in Europa und der Welt derzeit? Der ehemalige Botschafter im Interview
von  Ralf Müller
Der 77-Jährige war nach seiner Tätigkeit als Staatssekretär im Auswärtigen Amt Botschafter in den USA und Großbritannien. Von 2008 bis 2022 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz (Siko).
Der 77-Jährige war nach seiner Tätigkeit als Staatssekretär im Auswärtigen Amt Botschafter in den USA und Großbritannien. Von 2008 bis 2022 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz (Siko). © picture alliance/dpa

Wolfgang Ischinger (77) war nach seiner Tätigkeit als Staatssekretär im Auswärtigen Amt Botschafter in den USA und Großbritannien. Von 2008 bis 2022 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz (Siko). Im Interview mit der AZ spricht er über die Ukraine-Krieg und die von Kanzler Olaf Scholz (SPD) ausgerufene Zeitenwende.

AZ: Herr Ischinger, seit Beginn des Ukraine-Krieges droht man in Moskau mit dem Dritten Weltkrieg, Atomschlägen und so weiter. Wie real ist die Gefahr?
Wolfgang Ischinger: Der Westen hat keinen Grund, in Schockstarre oder Panik zu verfallen. Wir dürfen uns immer wieder daran erinnern, dass die kollektive Wirtschaftskraft des Westens ungefähr das 25-fache dessen ausmacht, was die Russische Föderation an Wirtschaftsleistung auf die Matte bringt. Wenn der Westen es nur ernst meinen würde, hätte die Russische Föderation nicht den Hauch einer Chance, ein Nachbarland wie die Ukraine zu unterjochen, wenn dieses Nachbarland vom kollektiven Westen so massiv unterstützt wird, wie das notwendig erscheint.

Bei uns ist man zunehmend über erhöhte Kriegsgefahr besorgt. Zu Recht?
Im Westen, insbesondere in Amerika, ist eine nachlassende Neigung zu beobachten, die Ukraine weiter massiv finanziell und militärisch zu unterstützen. Um die nachlassende Unterstützungsbereitschaft auszubalancieren, wird über die erhöhte Kriegsgefahr diskutiert. Ich will diese Kriegsgefahr nicht bagatellisieren - ganz im Gegenteil: Ich bin auch der Meinung, dass wir jetzt zu Beginn des Jahres 2024 ein Zusammenwirken von so vielen schwerwiegenden und zum Teil außerordentlich gefährlichen Krisen erleben wie schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Aber nochmal: Wenn der Westen darauf mit den Möglichkeiten reagiert, die er hat, brauchen wir nicht zu fürchten, dass Russland uns angreift. Aber wir müssen uns den Dingen stellen.

"In absehbarer Zeit werden wir nicht zur gewohnten Normalität zurückkehren können"

Man hat den Eindruck, dass der Ausruf der Zeitenwende nicht allzu viel bewirkt hat. Ist das auch Ihr Eindruck?
Für Teile der deutschen Öffentlichkeit kann ich sagen, dass die Dimension der Zeitenwende, welche der deutsche Bundeskanzler vor zwei Jahren ausgerufen hat, von der Öffentlichkeit nicht voll erfasst oder verstanden worden ist. Wir erleben einen Epochenbruch. Vielleicht auf Jahrzehnte hinaus werden wir mit einer gefährlichen Bedrohungslage aus Richtung Russland zu rechnen haben. In absehbarer Zeit werden wir nicht zur gewohnten Normalität der vergangenen Jahrzehnte zurückkehren können. Zeitenwende muss ernst genommen werden. Zeitenwende bedeutet, dass andere Regeln und Prioritäten gelten, nicht nur für die Verteidigungspolitik, sondern auch für die Art und Weise, in der wir mit Freunden und Gegnern umgehen.

Hat die Zeitenwende in der deutschen Verteidigung spürbare Veränderungen bewirkt?
Bundeskanzler Scholz verdient große Anerkennung dafür, dass er vor zwei Jahren diese Zeitenwende ausgerufen hat. An der Umsetzung und bei der Wahrnehmung der Dimension dieser Zeitenwende hapert es. Ich fände es angemessen, fast schon notwendig, dass der Bundeskanzler jedes Jahr zum selben Zeitpunkt in Sachen Zeitenwende Bilanz zieht und erläutert, was erreicht wurde und was nicht. Zum Beispiel hat die Europäische Union für die Munitionslieferungen an die Ukraine vollmundige Versprechen abgegeben, die sie bisher noch nicht einmal zur Hälfte halten konnte.

Was ist mit dem Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsleistungen auszugeben?
Diese berühmten zwei Prozent stehen ja nicht deshalb auf dem Programm, weil die USA dies vor nunmehr zehn Jahren auf einem Nato-Gipfel gefordert haben, sondern weil es um unsere existenzielle Sicherheitsvorsorge geht. Wir sollten das im ureigensten Eigeninteresse tun und nicht, um ein Versprechen einzulösen, das wir mal den USA gegeben haben. Da geistert eine Fehlwahrnehmung in der Öffentlichkeit herum, welche die Bereitschaft, die notwendigen Konsequenzen aus der Zeitenwende zu ziehen, leider unterminiert.

"Beginn 2024 ist ein Schlüsselmoment für die Welt"

Wäre demnächst die Sicherheitskonferenz in München ein guter Zeitpunkt für die Bundesregierung, die von Ihnen angesprochene Zwischenbilanz zur Zeitenwende zu ziehen?
Genau das habe ich kürzlich angeregt. Wir werden ja sehen, wie der Bundeskanzler und andere europäische Entscheidungsträger die Sicherheitskonferenz nutzen werden, um hier Punkte zu machen.

Ist 2024 ein Schicksalsjahr für die Welt?
In der Tat stehen wir zu Beginn des Jahres 2024 an einem Schlüsselmoment. Es gehört nicht viel prophetische Gabe dazu, um zu sagen: Was in diesem Jahr passiert oder nicht passiert, wird langfristige, ja historische Auswirkungen auf die europäische Sicherheitslage, auf das Selbstbewusstsein und die Selbstbehauptungskräfte der EU und auf den Umgang mit dem Aggressor Russland haben.

Es gibt viele Horror-Szenarien im Fall eines Wahlsiegs von Trump im November, etwa die Furcht vor einem Nato-Zerfall. Andererseits: Es wird nichts so heiß gegessen, wie gekocht wird. Wie sehen Sie das?
Ich mag mir nicht die Vorstellung zu eigen machen, dass es zu einem Zerfall oder Zerbrechen der Nato kommt. Es reicht aber schon, wenn der amerikanische Präsident zwei abfällige Bemerkungen über die Haltung zur Nato macht. Bei solchen Bemerkungen würden in Moskau die Champagnerkorken knallen, weil es eine öffentliche und nachhaltige Schwächung, ja Demütigung des westlichen Zusammenhalts und eine Stärkung der russischen Seite wäre. Solche Äußerungen eines Donald Trump hat man ja schon erlebt, und man kann sie nicht ausschließen. Umso wichtiger wird es sein, dass er sich hoffentlich mit einem Beraterstab umgibt, der weiß, was auf dem Spiel steht. Anders als 2016/2017 geht es um einen wahrhaftigen Krieg mit der Nuklearmacht Russland mitten in Europa. Nach dem Afghanistan-Desaster vor drei Jahren geht es nun auch um die globale politische Glaubwürdigkeit Amerikas und keineswegs nur um einen Konflikt weit weg von Europa, um den Amerika sich nicht kümmern muss. Ich hoffe und erwarte, dass man sich nicht nur im Beraterstab eines Joe Biden, sondern auch eines Donald Trump des Ernstes der Lage bewusst ist, die eine völlig andere als vor acht Jahren ist.

Russland kommt nicht zur Sicherheitskonferenz

Zieht Putin den Krieg in der Ukraine in die Länge, weil er auf eine Wiederwahl Trumps wartet? Dieser hat behauptet, er könne den Krieg in einem Tag beenden.
Wir haben Grund zur Annahme, dass Putin eine wie auch immer geartete Verhandlungslösung oder eine Kompromissvereinbarung in Sachen Ukraine sicherlich nicht eingehen wird, bevor er nicht den Ausgang des US-Wahlkampfs kennt. Er geht zu Recht davon aus, dass vom Chef im Weißen Haus doch sehr viel abhängt, was die Behandlung solcher Krisen angeht. Es gibt aber auch noch andere Gründe. Die Fortsetzung dieses Kriegs selbst bei enormen Opfern und Kosten auf der russischen Seite hat für Putin eher positive politische Folgen. Im Zuge eines Kompromisses müsste er zugeben, dass Russland seine ursprünglichen Kriegsziele - die Unterwerfung der Ukraine und die Entfernung der Regierung Selenskyj - nicht erreicht hat und dies auch nicht in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Die Fortsetzung der militärischen Auseinandersetzung ist ein Vehikel zur Verschleierung der eigentlich eingetretenen russischen Niederlage.

Die Siko hat sich immer zur Aufgabe gemacht, Brücken zwischen gegnerischen Lagern zu schlagen. Nun sind die Russen wieder nicht dabei. Verfehlt die Konferenz damit nicht einen Teil ihres Auftrags?
Es ist zu bedauern, dass sich die russische Seite schon vor dem Beginn des Großangriffs auf die Ukraine nicht mehr getraut hat, nach München zu kommen. 2022 habe ich noch persönlich sämtliche russischen Entscheidungsträger mit persönlichen Schreiben eingeladen. Kurzfristig wurde von russischer Seite mitgeteilt, man komme nicht. Natürlich ist unter den gegenwärtigen Umständen schon gar nicht damit zu rechnen, dass sich Vertreter der russischen Seite der Kritik im Ballsaal des Bayerischen Hofs aussetzen wollen.

Die Russen könnten kommen, wenn sie wollten?
Das ist eine theoretische Möglichkeit. Soweit ich es überblicken kann, hat kein einziger russischer Regierungsvertreter um eine Einladung gebeten. Der russische Botschafter in Berlin hat zu keinem Zeitpunkt der letzten Monate zu erkennen gegeben, dass er dankbar wäre, wenn wir seine Regierung einladen würden. Hier herrscht im Augenblick Funkstille.

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