Ex-Ministerpräsidentin der Ukraine: "Es gibt immer die Chance, Fehler zu korrigieren"

AZ-Interview mit Yulia Tymoschenko: Die heute 61-Jährige war von Februar bis September 2005 und von 2007 bis 2010 Ministerpräsidentin der Ukraine.
AZ: Frau Tymoschenko, wie blicken Sie auf die drei Monate seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine zurück?
YULIA TIMOSCHENKO: Ich fühle einen allumfassenden, großen Schmerz angesichts so vieler Morde, toter Menschen, zerstörter Städte. Wir sind ein demokratisches europäisches Land, das viele Jahre in Frieden gelebt hat. Wir hatten nie Ambitionen hinsichtlich anderer Territorien oder Länder. Es gibt keine aggressive Seele. Und jetzt werden Ukrainer getötet. Es ist surreal. Ich kann noch immer nicht glauben, dass uns das passiert.
Die Ukraine will schon lange Teil der EU werden
Sie setzen sich seit vielen Jahren für einen EU-Beitritt der Ukraine ein. Sehen Sie jetzt die Chance gekommen?
Die Frage ist doch vielmehr, warum wir nicht schon lange Mitglied sind? Der Grund liegt darin, dass ein Teil der europäischen Staats- und Regierungschefs ihre Beziehungen zu Putin und Russland nicht beschädigen wollte. Aber meiner Meinung nach gibt es eine deutliche Verbindung zwischen dem Krieg und der Diskussion über den EU-Kandidatenstatus. Es handelt sich ja nicht um ein neues Ziel der Ukrainer. Sie bekunden schon lange klar ihren Willen, wieder Teil Europas zu werden. Das ist der Grund, warum Putin den Krieg begonnen hat. Wir sind das einzige Land, das heute mit dem Leben seiner Bürger und mit seinem Blut für den Wunsch bezahlt, in die europäische Heimat zurückzukehren.
In der EU bleiben die Meinungen gespalten. Deutschland und Frankreich beispielsweise dämpfen regelmäßig die Hoffnung auf einen schnellen EU-Beitritt der Ukraine.
Als die Massaker des russischen Militärs in Butscha bekannt wurden, hat die EU grundsätzlich positiv auf den Antrag der Ukraine reagiert. Alle waren so schockiert über die hohe Zahl der Opfer. Aber nun sind einige Wochen vergangen und plötzlich beginnen wir zu hören, dass die Zeit wohl doch nicht gekommen ist. Dass man eher eine Union schaffen will, die speziell auf die Ukraine zugeschnitten ist.
Bisher stand die Korruption der EU-Mitgliedschaft im Weg
Als größte Hürde, warum die Ukraine der EU-Mitgliedschaft bislang nicht näherkam, gilt Korruption.
Wenn wir ehrlich sind, dann gibt es leider in vielen Ländern Korruption. Immer erhält man dieses Standardargument der Korruption, wenn jemand versucht, eine Erklärung zu finden, warum die Ukraine nicht akzeptiert wird. Der wirkliche Grund ist Putins Vetomacht. Jetzt aber naht die Stunde der Wahrheit. Und seit dem Zeitpunkt, als die EU-Länder beschlossen, dass die Ukraine den Kandidatenstatus verdient, wurde nicht mehr viel über Korruption gesprochen.
Trotzdem, der EU-Rechnungshof stellte 2021 fest, dass "Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine" untergraben. Wie kann dieses Problem ausgemerzt werden?
Natürlich gibt es in der Ukraine als Teil der ehemaligen Sowjetunion Korruption. Das hängt mit der Qualität der Institutionen zusammen. Ich akzeptiere, dass wir die Korruption bekämpfen müssen, aber ich protestiere, wenn sie als Vorwand angeführt wird, um dem Kandidatenstatus kein grünes Licht zu geben. Durch das Assoziierungsabkommen mit der EU ist es uns bereits gelungen, einige Institutionen zu reformieren, ein spezielles Gremium zur Korruptionsbekämpfung wurde eingerichtet, Standards haben sich geändert. Ich würde nicht sagen, dass es in dieser Hinsicht keine Fortschritte gab.
Tymoschenko: Merkel war "eine echte Freundin der Ukraine"
Deutschland wurde in den letzten Monaten auf internationaler Ebene scharf kritisiert. Für seine Energie-Abhängigkeit von Russland und für das für viele zu zögerliche Vorgehen bei Waffenlieferungen und Sanktionen.
Ich habe die deutsche Regierung stets gepriesen. Wir hatten immer herzliche und konstruktive Beziehungen zu Deutschland. Angela Merkel war zu ihrer Zeit eine sehr starke Kanzlerin, eine echte Freundin der Ukraine. Ich glaube, dass sie das auch bleiben wird.
Obwohl sie 2008 eine der treibenden Kräfte war, die eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine verhindert hat?
Das war ein tragischer und weitreichender Fehler. Ich habe damals als Ministerpräsidentin den Antrag unterzeichnet. Hätte die Nato die Ukraine aufgenommen, wäre es nie zum Krieg gekommen. Aber es gibt immer die Chance, Fehler zu korrigieren.
Tymoschenko: Die Regierung kann den Lauf der Geschichte ändern
Sie wollen demnächst nach Berlin reisen. Ist es diese Botschaft, die Sie mitbringen?
Ich will der Regierung sagen, dass sie die Möglichkeit hat, den Lauf der Geschichte Europas zu verändern. Dass sich das Land aus der Abhängigkeit lösen muss, die Russland ausnutzt, um es zu erpressen. Deutschland hat die Zukunft und das Schicksal Europas in der Hand. Von Deutschland hängt entscheidend ab, dass dieser Krieg endet, dass es keine Sanktionen und keine weiteren Kriege in der Zukunft gibt. Es ist eine Gelegenheit, Führung zu demonstrieren, einschließlich der moralischen Führung. Alle Länder, die zu erobern Russland versucht ist, sollten Teil des Verteidigungsabkommens werden. Das würde die Tür zu jedem künftigen Krieg schließen. Putin wird keinen Krieg gegen die Nato führen.
Wenn Sie von Sieg sprechen. Was meinen Sie ganz konkret?
Eine vollständige Niederlage der russischen Truppen auf dem Territorium der Ukraine und die Rückgabe des ukrainischen Gebiets, zurück zu den staatlich anerkannten Grenzen. Ein Sieg würde die Wiederherstellung der Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine und die Rettung des ukrainischen Volkes vor dem Völkermord bedeuten. Und als Konsequenz daraus würde die Mitgliedschaft in der EU und der Nato folgen. Das wäre ein vollständiger Sieg.