Ex-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen über Fehler der Nato"Nichts auszuschließen"

AZ-Interview mit Anders Fogh Rasmussen Er war von 2001 bis 2009 dänischer Regierungschef und im Anschluss bis 2014 Nato-Generalsekretär. 2017 gründete er die Alliance of Democracies.
AZ: Herr Rasmussen, Deutschland hat am vergangenen Wochenende eine historische Kehrtwende in seiner Sicherheitspolitik vollzogen. Sie hatten schon lange mehr Einsatz aus Berlin gefordert. Erkennen Sie Deutschland noch?
Anders Fogh Rasmussen: Ich war ein großer Kritiker des deutschen Zögerns, einem zunehmend aggressiv auftretenden Wladimir Putin nicht entschlossener entgegenzutreten. Umso mehr schätze ich die jetzt getroffenen Entscheidungen. Sie markieren einen Wendepunkt, nicht nur in der neueren deutschen Geschichte, sondern auch für Europa. Endlich hat sich Deutschland aus dem Schatten des Zweiten Weltkriegs gelöst. Es hat das getan, was wir von Deutschland erwartet haben. Seine wirtschaftliche Stärke wird sich künftig auch in einem stärkeren sicherheitspolitischen Engagement widerspiegeln.
Noch scheinen sich viele an den neuen Kurs gewöhnen zu müssen.
Die Bundesregierung hat ihre Entscheidung, keine Waffen zu liefern oder nicht stark in die Verteidigung zu investieren, stets mit der eigenen Geschichte begründet. Aber sie zog die falschen Lehren.

"Putin hat die Einheit zwischen EU und USA wiederhergestellt"
Inwiefern?
Eine Politik der Beschwichtigung mit Diktatoren führt niemals zu Frieden, sondern nur zu Konflikt oder sogar zu Krieg. Putin ist das beste Beispiel dafür. Er respektiert nur die Sprache der Stärke, der Kraft und Einheit. Wir haben uns seit 1997 sehr bemüht, Russland einzubinden. Putins Reaktion lautete stattdessen, 2008 Georgien und 2014 die Ukraine anzugreifen. Es ist doch im Grunde mehr als ironisch, dass er mit seinem aktuellen Vorgehen genau das Gegenteil von dem erreicht, was er erzielen wollte. Er stellt sich als treibende Kraft für mehr europäische Geschlossenheit innerhalb der EU dar. Er hat die Nato gestärkt und dafür gesorgt, dass mehr Nato-Truppen näher an die russischen Grenzen geschickt wurden. Er hat die Einheit zwischen der EU und den USA wieder hergestellt und einen dramatischen Wandel in der Haltung Deutschlands gegenüber Russland eingeleitet.
Trotz dieser Einheit, trotz der Sanktionen gegen Russland und der Lieferung von mehr Waffen an die Ukraine nimmt dort die Gewalt von Stunde zu Stunde zu. Was kann der Westen noch tun?
Wir haben mehr in der Hand. Es wäre ein harter Schlag für die russische Wirtschaft, wenn wir den Import von russischem Gas reduzieren würden. Fossile Brennstoffe betreffen nicht nur den Klimawandel, sondern sind auch eine sicherheitspolitische Frage. Russland nutzt und missbraucht Energie als Waffe.
"Ein möglicher EU-Beitritt würde Ukrainern Hoffnung geben"
Also was tun?
Wir sollten unsere Anstrengungen beschleunigen, um unsere Abhängigkeit zu verringern. Für Deutschland heißt das, auch die Laufzeitverlängerung bestehender Kernkraftwerke ernsthaft zu prüfen. Darüber hinaus sollte die EU erwägen, der Ukraine den Status als Beitrittskandidat zu verleihen. Das bedeutet nicht, dass Kiew über Nacht EU-Mitglied würde, ganz im Gegenteil. Aber es wäre ein wichtiges Signal und würde den mutigen Ukrainern etwas Hoffnung geben.
Baltische Staaten wie Lettland und Litauen befürchten, als Nächstes auf Putins Liste zu landen. Denken Sie, er würde es wagen, ein Nato-Mitglied anzugreifen?
Es wäre das Worst-Case-Szenario, das man leider nicht ausschließen kann. Insbesondere dann nicht, wenn Putin in der Ukraine Erfolg hat. Das könnte ihn ermutigen, weiter zu gehen, beispielsweise Schritte zu unternehmen, um die Enklave Kaliningrad mit dem russischen Festland zu verbinden. Dafür wären Gebiete von Litauen und Polen erforderlich. Es würde einen offenen Krieg mit der Nato bedeuten.
"Wir sollten auf das Schlimmste vorbereitet sein"
Düstere Aussichten. Wie bewerten Sie Putins Atomdrohung?
Wir sollten sie ernst nehmen. Eine Lektion ist, dass man Aussagen von Putin immer ernst nehmen muss. In der Vergangenheit gehörte zu unseren Fehlern, seinen Worten keinen Glauben geschenkt zu haben. Viele seiner Ziele hat er schon vor langer Zeit öffentlich geäußert. Im Übrigen ist es natürlich an sich schon unglaublich, dass ein russischer Präsident seine Nuklearstreitkräfte öffentlich in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Wir sollten deshalb auf das Schlimmste vorbereitet sein.
Wir scheinen in einer Sackgasse zu stecken.
Ja, wir stecken fest. Es ist schwer, eine friedliche Lösung zu sehen. Aber jeder Tag, an dem die Ukrainer dem russischen Aggressor Widerstand leisten können, ist nicht nur ein Gewinn für die Ukrainer, sondern für den Westen als solchen.