Ex-BR-Chefredakteur Sigmund Gottlieb im Interview: "Seehofer wird es nochmal machen"

Der langjährige Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens blickt auf seine TV-Karriere zurück – und gibt einen Ausblick auf die Zukunft des Journalismus sowie das Superwahljahr 2017.
von  Clemens Hagen
Entspannt in den (Un-)Ruhestand: Sigmund Gottlieb vor dem Augustiner-Keller.
Entspannt in den (Un-)Ruhestand: Sigmund Gottlieb vor dem Augustiner-Keller. © Michael Tinnelfeld/API

Der 65-jährige Franke Sigmund Gottlieb war von 1995 bis zum 31. März Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens.

AZ: Herr Gottlieb, fangen wir mit der Zukunft an: Was macht Sigmund Gottlieb jetzt, da er nach 40 Jahren Journalismus endlich ein freier Mann ist?
SIGMUND GOTTLIEB: Es sind vor allem zwei Bereiche, die ich stärker beackern möchte. Einmal ist das die wissenschaftliche Arbeit. Ich hatte bisher schon einen Lehrauftrag, nämlich an der Fachhochschule Amberg-Weiden. Außerdem bin ich der Uni Passau sehr verbunden, da sitze ich seit wenigen Wochen im Hochschulrat, einem wichtigen Gremium. Zum anderen möchte ich das Thema Qualitätsjournalismus aus meiner Erfahrung heraus weiterentwickeln.

Weiterentwickeln? Was soll das bedeuten?
Früher waren wir Journalisten die Sachwalter der Leute, des Volkes. Inzwischen sind wir soweit – ob zu Recht oder zu Unrecht, das lasse ich mal dahingestellt –, dass uns viele als Teil der Eliten betrachten. Neben der Politik und der Wirtschaft kommen die Medien, die ihre eigene Kaste bilden und die nicht mehr für die Menschen, sondern zum Teil sogar gegen die Menschen arbeiten. Das ist ein Riesenproblem.

Der Journalismus hat derzeit zweifellos ein angekratztes Image. Stichwort Lügenpresse.
Ja, die Glaubwürdigkeit der Journalisten leidet massiv wegen der sozialen Medien, die ja alles mit unglaublicher Wucht und Geschwindigkeit vorantreiben, sodass die klassischen Medien da nur noch hinterherhinken können.

"Die Verquickung von Fakten und Stimmungen hat mich sehr geärgert"

Der Journalisten, das überforderte Wesen?
Was sind wir als Journalisten? Wir sind Beobachter, Generalisten. Wir sind selten in Themen ganz tief drin, weil wir keine Wissenschaftler sind, keine Experten. Sich aus dieser Problematik heraus die richtigen Fragen für die Zukunft zu stellen, das finde ich spannend.

Eines der Probleme, das in diesen Tagen oft beklagt wird, ist die Vermengung von journalistischen Darstellungsformen, genauer von Nachricht und Kommentar. Man denke nur an die Berichterstattung über Donald Trump . . .
Was mich hier sehr geärgert hat, war die Verquickung von Fakten und Stimmungen zu einer Melange, die nichts mehr mit sauberem Journalismus zu tun hatte. Viele Kollegen waren da voreingenommen – Trump ist schlecht. Punkt. Da hat der deutsche Journalismus kein gutes Bild abgegeben.

Sie müssen aber zugeben, dass es Journalisten auch nicht einfach haben heutzutage. Oft geht es nur noch darum, wer berichtet zuerst, wer hat die Nachricht exklusiv.
Stichwort "Breaking News". Ja, das ist problematisch. Bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das Urteil zum NPD-Verbotsantrag haben selbst qualitativ hochwertige Leitmedien wie Zeit online oder NZZ online zunächst falsch berichtet, was nicht passiert wäre, wenn sie zwei Minuten länger gewartet hätten.

"Durch Transparenz lassen sich die Vorurteile abbauen"

In solchen Fällen wäre es natürlich gut, Fehler auch mal einzugestehen. Damit tun sich Journalisten aber traditionell schwer, oder?
Seltsamerweise ist das so. Dabei machen Journalisten ständig Fehler, weil sie in Prozessen drinstecken, die sich oft minütlich ändern. Es würde der Glaubwürdigkeit der Journalisten guttun, wenn sie diese Fehler auch zugeben würden. Und wenn sie zeigen würden, wie sie arbeiten, unter welchem Zeitdruck sie stehen, welche Quellen sie zur Verfügung haben. Dabei könnten über Streaming-Plattformen sogar unsere Redaktionskonferenzen live übertragen werden . . .

...ob die so fesselnd sind?
Gut, das lasse ich mal dahingestellt. Aber durch Transparenz lassen sich Vorurteile abbauen.

Seit wann existiert dieses Glaubwürdigkeitsproblem?
Vor eineinhalb Jahren mit Beginn der Flüchtlingswelle gab es eine Zäsur, an der vor allem das Fernsehen schuld war. Da wurden zwei Tage lang nur Jubelbilder – vor allem vom Münchner Hauptbahnhof – gezeigt, ohne die andere Seite zu beleuchten: die Probleme. Da haben viele Menschen angefangen, uns nicht mehr zu glauben, weil wir nicht die ganze Wahrheit abgebildet haben. Als wir dann später gegensteuerten, war die Meinungsbildung bei vielen abgeschlossen.

Anderes Thema: Man mag es sich gar nicht vorstellen, der BR ohne Sigmund Gottlieb ist wie der FC Bayern ohne Uli Hoeneß, aber es gibt ein Leben nach Ihnen. Das Zauberwort unter Ihrem Nachfolger Christian Nitsche lautet anscheinend "Trimedialität". In Freimann baut der BR gar ein "trimediales Aktualitätszentrum". Klingt gefährlich . . .
Das bedeutet zuerst einmal, dass es eine gemeinsame Planung geben wird. Da sitzen die Online-Leute, die Hörfunk-Leute und die Fernseh-Leute an einem Tisch und überlegen sich, was sind die wichtigen Themen des Tages, der Woche?

Und die werden dann vor Ort von einer Art "eierlegenden Wollmilchsau" umgesetzt, die einen Online-Text schreibt, danach einen längeren Hörfunk-Beitrag aufnimmt und zum Schluss aus den zuvor selbst gefilmten TV-Bildern einen Fernsehbeitrag schneidet?
Ja, das wird irgendwann kommen, jüngere Kolleginnen und Kollegen, die nacheinander alle medialen Kanäle bedienen. Dieser Weg ist meines Erachtens nach ohne Alternative, nur so lässt sich die publizistische Schlagkraft erhöhen. Bisher wurde ein tolles Recherche-Ergebnisse vielleicht in "Report München" in der ARD gezeigt oder im Hörfunk gesendet. Die Zukunft heißt: Ich mache einen "Report"-Beitrag, ich setze es in die Rundschau, ich mache einen "Funkstreifzug" im Hörfunk, ich mache es auf B5 und ich spiele es auf BR24 online ab.


Sigmund Gottlieb im Gespräch mit AZ-Politikvize Clemens Hagen. Foto: Michael Tinnelfeld/API

Alle Medien kämpfen um die junge Zielgruppe, was zunehmend schwieriger wird. Wie können die Öffentlich-Rechtlichen gegen die Überalterung ihrer "Kundschaft" ansenden?
Stimmt, das ist auch unsere Achillesferse. Wir kriegen die jungen Leute aus meiner Sicht nicht mehr über das lineare Programm, das klassische Fernsehen. Das ist etwas für ältere Zuschauer. Die Jungen kriegen wir über das mobile, das zeitunabhängige Angebot. Was wir dabei keinesfalls sein dürfen, ist anbiedernd .

...so wie die neuen Spätnachrichten des ZDF, "heute+", das eher an Schulfunk erinnert? Da fühlt sich sogar meine 21-jährige Tochter veräppelt, die eigentlich Kernzielgruppe sein müsste.
Veräppelt fühlen dürfen sich junge Zuschauer natürlich nie. Die wollen von uns die Welt erklärt und ihre Fragen beantwortet bekommen, und zwar auf eine kluge, sie ansprechende Weise. Die zu finden, das ist eine ganz schwere Aufgabe. Aber da sind wir alle dran.

Themenwechsel: Wenn man auf eine so lange Karriere wie Sie zurückblicken kann, was war der Höhepunkt?
Das war sicher meine Moderation des "heute journals" am 9. November 1989, dem Tag, als die Mauer fiel. Diese Zeit der Wiedervereinigung war die journalistisch wichtigste Zeit meines Lebens.

"Hätte ich schärfere Fragen gestellt, wäre Erdogan aufgestanden"

Mit Ihnen verliert die linksliberale Presse auch ein Feindbild. Die taz schrieb über den "hassgeliebten" Gottlieb, die SZ taufte Sie den "fränkischen Weltenrichter". Man hat das Gefühl, die Kollegen tragen wegen Ihres Abschieds sogar eine Träne im Knopfloch.
Den Artikel in der SZ fand ich ausgesprochen fair und klug, von denen musste ich in den vergangenen Jahrzehnten ja sonst Einiges einstecken.

Besonders viel einstecken mussten Sie nach dem Erdogan-Interview Mitte letzten Jahres, als Sie als untertänig und servil kritisiert wurden.
Darüber habe ich mich geärgert, weil es zum einen natürlich Kollegenneid war. Zum anderen wollte Erdogan das Gespräch ja an zwei Stellen abbrechen. Das hat mir hinterher sein Referent gesagt. Ich habe da also eine Gratwanderung betrieben. Hätte ich schärfere Fragen gestellt, wäre Erdogan aufgestanden und gegangen. Da wäre ich als Held dagestanden, aber die Welt hätte nichts über meinen Interviewpartner erfahren.

Wir befinden uns im Superwahljahr 2017. Was ist Ihre Prognose für die Bundestagswahl im September?
Wir werden wieder eine Große Koalition bekommen – entweder unter Führung der Union oder der SPD.

Entweder unter Führung der Union oder der SPD – nicht sehr mutig als Prognose. Geht’s konkreter?
Ein Kollege von der NZZ hat kürzlich sehr richtig geschrieben, dass es Merkel wieder machen wird, weil sie die einzige Politikerin mit Maß und Berechenbarkeit ist in einem rechtsnationalen Europa zwischen Trump und Putin.

Vor der Bundestagswahl hat erst einmal Frankreich die Wahl. Gewinnt Le Pen, könnte dies das Ende von Europa bedeuten, so wie wir es kennen.
Ich glaube, dass nach einer Phase starker Europa-Kritik in den letzten zwei, drei Jahren eine pro-europäische Renaissance zu erkennen ist. Bei den jungen Leuten ist Europa geradezu eine Selbstverständlichkeit geworden. Die wollen die vielen Vorteile nicht missen, die sie jetzt genießen, das freie Reisen. Auch die nationalistischen Bestrebungen in vielen europäischen Ländern werden an Kraft verlieren.

Von der großen europäischen auf die etwas kleinere bayerische Bühne: In welcher Verfassung sehen Sie die CSU?
Was die personelle Ausstattung betrifft, steht die CSU sehr gut da. Die haben nicht nur für die nächste Generation nach Seehofer, sondern auch für die danach einige qualitativ sehr gute Leute zur Verfügung. Da ist zuerst einmal Söder, da ist Herrmann, da ist Dobrindt, der ja mit der Maut – egal, wie sie nun funktionieren wird – ein Gesellenstück abgelegt hat. Dahinter kommt zum Beispiel auch noch ein Manfred Weber. Mit einem solchen Personal können andere Parteien nicht aufwarten, auch nicht die CDU. Dafür hat Merkel gesorgt, die ja viele gute Leute wie Merz oder Koch vertrieben hat.

Die Gretchenfrage für die CSU lautet: Macht es Seehofer noch einmal oder nicht?
Ich glaube schon. Mit der Flüchtlingswelle hat er ja so eine Art zweite Luft bekommen.

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