Ex-Botschafter in Moskau Rüdiger von Fritsch: "Die Fassade in Russland bröckelt erkennbar"

Bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2019 bekleidete Rüdiger von Fritsch das Amt des Botschafters in Moskau. Wobei von Ruhestand seither auch keine Rede sein kann. Speziell seit dem russischen Angriff auf die Ukraine veröffentlicht der Diplomat Analysen zur Situation. Mit der AZ hat er über das aktuelle Kriegsgeschehen und das Innenleben des russischen Staates gesprochen.
AZ: Herr von Fritsch, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt, die Vorbereitungen für die geplante Offensive seien abgeschlossen und dass alle von Russland besetzten Gebiete befreit werden sollen. Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, die größte Gefahr, dass Moskau Nuklearwaffen einsetzt, bestünde beim Versuch einer Rückeroberung der Krim. Wie ernst ist die Lage?
RÜDIGER VON FRITSCH: Die Frage wird sein, wie die ukrainischen Streitkräfte vorgehen. Theoretisch würde es reichen, die Halbinsel von der russischen Versorgung abzuschneiden. Das allein wäre schon einschneidend und dafür müsste man nicht einmal auf die Krim übergreifen.
Die Gefahr eines Nuklearschlags ist also nicht gewachsen?
Wir können nichts ausschließen. Aber wir können in Wahrscheinlichkeiten denken: Wladimir Putin weiß, welche Konsequenzen ein solches Vorgehen für ihn hätte. Er ist nicht allein von den USA gewarnt worden, diese rote Linie nicht zu überschreiten, sondern auch von seinen vermeintlichen Verbündeten China und Indien. Ein bekannter russischer Militärexperte hat einmal gesagt, Russland habe drei große Exportgüter – fossile Energieträger, Waffen und Angst. Wir dürfen nicht in Russlands Angstfallen tappen. Manche laufen allerdings doch hinein.
Ex-Botschafter Rüdiger von Fritsch: "Dass die Ukraine nicht gegen die Nuklearmacht Russland gewinnen kann, ist zutiefst unhistorisch"
An wen denken Sie?
Nehmen wir den Aufruf von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Darin steht, die Ukraine könne unmöglich einen Krieg gegen die Nuklearmacht Russland gewinnen. Das ist zutiefst unhistorisch. Die Nuklearmacht Russland hat einen Krieg gegen die aufständischen Tschetschenen verloren, die Nuklearmacht Sowjetunion in Afghanistan, die Nuklearmacht USA in Vietnam.
Atomwaffen sind dazu da, abzuschrecken und eben nicht dazu, eingesetzt zu werden. Diese Logik ist auch Wladimir Putin bewusst. Das ständige Geraune über Nuklearwaffen dient dazu, Angst zu erzeugen und Überlegungen zu befeuern, ob es nicht besser wäre, wenn die Ukraine ein Stück Land abgibt.

Ein Vorschlag, den etwa der frühere US-Außenminister Henry Kissinger bezüglich der Krim gemacht hat.
Das ist aus unserer Logik heraus gedacht und nicht aus der Wladimir Putins. Er würde sich durch einen Happen, den man ihm hinwirft in der Hoffnung, dass er dann Ruhe gibt, nur ermutigt fühlen, mit dieser aggressiven Politik weiterzumachen, die sich ja offensichtlich bewährt. Frieden ist für Wladimir Putin kein Ziel an sich. Deshalb muss es unser Ziel sein, dass er diesen Krieg nicht gewinnt.
Wie erreicht man das?
Indem die Ukraine von uns in die Lage versetzt wird, sich erfolgreich zu behaupten und an einem bestimmten Punkt fähig ist, einen Waffenstillstand und einen künftigen Frieden zu verhandeln, der kein russisches Sieg-Diktat darstellt.
Wie bewerten Sie die Drohnen-Angriffe auf Moskau Anfang der Woche? Ein Manöver Kiews, um den Kreml dazu zu verleiten, Flugabwehr von der Front abzuziehen - oder eine False-Flag-Aktion der Russen, um ihre "militärische Spezialoperation" weiter rechtfertigen zu können?
Wer tatsächlich dafür verantwortlich ist, wird sich vielleicht nie klären lassen. Aber zwei Aspekte sind wichtig: Zum einen ist das, was innerhalb Russlands jetzt geschieht, nichts im Vergleich zu dem, was Russland mit seiner Aggression an Leid und Vernichtung in der Ukraine anrichtet.
Zum anderen wird innerhalb Russlands demonstriert, dass die russische Führung nicht so stark ist, wie sie ihrer eigenen Bevölkerung suggeriert: dass sie das Land eben nicht ausreichend schützen kann. Diese wiederholten Nadelstiche dienen in Summe dem ukrainischen Ziel, die russische Führung zu destabilisieren, möglicherweise zu einer Veränderung der Machtverhältnisse beizutragen – und so zu einem Ende des Krieges.
Ex-Diplomat von Fritsch: "Putin weiß, dass es einen Kipppunkt geben könnte, an dem die Stimmung gegen ihn umschlägt"
Was könnte eine solche Veränderung noch auslösen?
Wladimir Putin ist eine Wette auf die Zeit eingegangen: Er hofft, dass wir in die Knie gehen und die Unterstützung der Ukraine beenden. Das ist derzeit nicht vorstellbar. Er weiß jedoch auch, dass seine Möglichkeiten begrenzt sind, diesen Krieg auf Dauer durchzuhalten. Militärisch wird er zwar immer mehr in die Schlacht werfen. Aber er hat Russland in eine Kriegswirtschaft geführt und verlangt seinem Land immer mehr ab. Dazu braucht er die Zustimmung der Bevölkerung und derjenigen, die das Land mitführen.
Er weiß, dass es einen Kipppunkt geben könnte, an dem die Stimmung gegen ihn umschlägt. Und angesichts der spürbaren Auswirkungen der Sanktionen – die Wladimir Putin selbst einräumt – und des bisher ausbleibenden Erfolges der russischen Operationen wird die Wahrscheinlichkeit dafür höher. Diese Entwicklung könnte dazu führen, dass er verhandlungsbereit ist.
Ein Hinweis auf schwindenden Rückhalt könnte sein, dass am Tag des Sieges über Nazi-Deutschland etliche der sonst üblichen Paraden zu Ehren der Weltkriegs-Veteranen abgesagt wurden – offiziell aus Angst vor Angriffen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, oder?
Was wir am 9. Mai gesehen haben, war der mühsame Versuch, eine Fassade aufrechtzuerhalten, die erkennbar bröckelt. Der "Marsch des unsterblichen Regiments" war eine Initiative, die ursprünglich aus der Zivilbevölkerung kam und dann von der Macht gekapert wurde: Die Teilnehmer zogen schweigend mit Bildern von Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg durch die Städte.
Eine Erklärung dafür, dass diese Märsche jetzt abgesagt wurden, könnte durchaus sein, dass die Führung befürchtete, dass die Teilnehmer diesmal Bilder von Soldaten oder Gefallenen aus dem gegenwärtigen Kriege vor sich hertragen.
"Es wäre für den Kreml ein Leichtes, Prigoschin zum Schweigen zu bringen"
Kann Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin, der verbal fortwährend gegen die Militärführung schießt, Wladimir Putin gefährlich werden?
Es wäre für den Kreml ein Leichtes, ihn zum Schweigen zu bringen. Er darf noch reden, weil er eine Funktion erfüllt: Prigoschin steht für einen gewissen rechtsnationalistischen Teil der Gesellschaft, hält durch seine beständige Kritik an der Armeeführung und ihren Operationen den Druck auf das Militär aufrecht – und lenkt damit die Verantwortung weg vom Präsidenten.
Wenn Putin Prigoschin nicht fürchtet, wen dann?
Den, den er nicht kennt. Jemanden wie den Danziger Elektriker Lech Walesa, von dem niemand gehört hatte, bis er 1979 auf das Tor seiner Werft geklettert ist, gesagt hat "Es reicht, mir nach!" und ein Jahr später die weltweit größte Gewerkschaft mit elf Millionen Mitgliedern um sich versammelt hatte.
Eine unbekannte Persönlichkeit, die sich plötzlich an die Spitze einer Bewegung des Unmuts in der Bevölkerung stellen könnte. Deswegen ist er auch so repressiv. Gleichzeitig ist aber nicht auszuschließen, dass ein Stoß gegen die aktuelle Führung aus deren direktem Umfeld kommt, beispielsweise aus dem Militär: Von Menschen, die ihre eigenen Interessen gefährdet sehen und deshalb dem Präsidenten in den Arm fallen.
Rüdiger von Fritsch: "Dieser Krieg ist nicht in Chinas Interesse"
Dem Präsidenten, der nun den Schulterschluss mit China sucht. Der chinesische Sonderbeauftragte pendelte zuletzt zwischen Kiew und Moskau. Hält Peking den Schlüssel zur Beendigung dieses Krieges in der Hand?
Wenn Wladimir Putin den Schulterschluss mit Peking sucht, begibt er sich in eine große Abhängigkeit. Es ist ein völlig ungleiches Verhältnis, das überdies davon bestimmt wird, dass dieser Krieg nicht in Chinas Interesse ist.

Warum nicht?
Weil es Russland, diesen möglichen Alliierten in der Auseinandersetzung mit den USA, nicht gerne geschwächt sieht; weil Wladimir Putin massiv die Wirtschaftsinteressen Chinas beschädigt hat, indem er auf seinen Absatzmärkten für Inflation, Rezession und einen Rückgang der Konsumenten-Nachfrage sorgt; weil er den Strang der Seidenstraße durch Russland zertreten hat.
Peking wäre, wenn es wollte, in der Tat in der Lage, erfolgreich auf einen Friedensschluss hinzuwirken. Traditionell hat es gute Beziehungen sowohl zu Moskau als auch zu Kiew unterhalten. Allerdings müsste es dann auch den Interessen der Ukraine auf eine freie Selbstbestimmung ihrer Zukunft Rechnung tragen.
Russland blockiert im UN-Sicherheitsrat jede ihm unliebsame Aktion. China ist zwar Mitglied der WTO, hält sich aber nicht an die Regeln. Die USA sind – wie die beiden anderen – dem Internationalen Strafgerichtshof erst gar nicht beigetreten. Haben sich die internationalen Organisationen und Regelwerke überlebt?
Mit Blick auf die Vereinten Nationen kann man zu diesem Schluss kommen. Allerdings könnten sie auf einem anderen Weg als über den Sicherheitsrat tätig werden. Es wundert mich seit langem, dass der Generalsekretär so wenig Aktivität entfaltet. In den 15 Monaten dieses schrecklichen Krieges ist er nur ein einziges Mal auf einer Vermittlungsaktion nach Kiew und Moskau gewesen.
Auch die Generalversammlung könnte sich selbst stärker ermächtigen. Dafür gibt es Mittel. Deshalb sollte man weiterhin auf die Vereinten Nationen setzen – wie auf das Funktionieren multilateraler Organisationen überhaupt, von denen immer wieder neue entstehen.
"So schwierig manches auch geworden sein mag: Diplomatie und Dialog bleiben der richtige Weg"
An welche Organisationen denken Sie dabei?
Zum Beispiel an die internationale Klimakonferenz COP27, in der ja angesichts der ungeheuren Herausforderungen, vor denen wir stehen, durchaus Ergebnisse erzielt wurden. Oder die G7 und die G20, die sehr entschlossen Position in diesem Konflikt bezogen haben. Insofern sollten wir von dem grundsätzlichen Ansatz nicht ablassen, in multilateralen Verabredungen das Geschick der internationalen Gemeinschaft auf dem bewährten Weg der Diplomatie und des Dialoges voranzubringen. So schwierig manches auch geworden sein mag: Es bleibt der richtige Weg.
Auch in Bezug auf Russland?
Wladimir Putin hat Russland – und hier zitiere ich den russischen Ökonomen Wladislaw Inosemzew – in ein unzeitgemäßes Land verwandelt. Er hat es aus der internationalen Ordnung herausgenommen, in eine ungeheure Abhängigkeit von China geführt – und angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung in eine düstere Zukunft. Er hat sich vom Versuch verabschiedet, bestehende Konflikte im Dialog friedlich mit Mitteln der Diplomatie auszugleichen.
Er hat das Schachbrett mitten im Spiel umgeworfen. Das macht die Regeln des Schachs nicht falsch – aber Vermittlung bedarf zweier Seiten. Und Wladimir Putin ist nicht gesprächsbereit, weil er an seinen maximalistischen imperialistischen Kriegszielen festhält. Putin hat die Konfrontation gewählt – und unsere Aufgabe ist es nun, diese zu gestalten.
"Ich bin zuversichtlich, dass es Deutschland gelingen kann, erfolgreich die Zukunft zu gestalten"
Wie gestaltet man die Konfrontation mit dem Kreml?
Wir müssen mit Russland, das wir uns ja nicht einfach wegwünschen können, perspektivisch wieder Verabredungen über Sicherheit treffen: über konventionelle Streitkräfte, Mittelstreckenraketen und anderes mehr. Und wir müssen Ländern wie der Ukraine, Moldau oder Georgien, die Moskau zur Pufferzone Russlands machen will, zu Trampelpfaden seiner Armee, eine Perspektive geben. Außerdem müssen wir Europäer uns selbst stärker ertüchtigen.
Wir sind in vielen Bereichen enorm erfolgreich: als Wirtschafts- und Handelsmacht, beim freien Waren-, Kapital-, Personen- und Dienstleistungsverkehr, der gemeinsamen Währung. Aber in unserer Außen- und Sicherheitspolitik sind wir unverändert schwach. Dieser Krieg muss ein Weckruf sein, uns auch in diesen Bereichen auf eigene Füße zu stellen. Nicht um uns aus der Nato zu lösen. Aber niemand weiß, wer in zwei Jahren amerikanischer Präsident sein wird – und Europa sollte vorbereitet sein.
Wo steht Deutschland in dieser aufgewühlten Welt?
Unser Land hat seit Kriegsbeginn bewiesen, dass die Rechnung Wladimir Putins nicht aufgegangen ist: Wir haben keinen Zusammenbruch der Energieversorgung erlebt und keinen Wutwinter.
Wir haben in diesen 15 Monaten Enormes geleistet, um unsere Energieversorgung umzustellen, und wir haben in Summe sehr viele gute Voraussetzungen für eine gute Zukunft: eine immer noch sehr gut ausgebildete Bevölkerung; 2,5 Millionen Unternehmen, mehr als die Hälfte davon familiengeführt, die mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze garantieren und immer wieder bewiesen haben, dass sie in der Lage sind, sich auf neue Herausforderungen einzustellen; einen hohen Grad an Innovation. Ich bin zuversichtlich, dass es Deutschland gelingen kann, in einem starken Europa, das zusammensteht, erfolgreich die Zukunft zu gestalten.