Europawahl: Zweite Liga statt Champions League

Kann man überzeugter Europäer sein und dennoch der Europawahl fernbleiben? Ja, man kann. Vielleicht sollte man sogar. Woran es liegt, dass so viele Menschen für Europa sind und trotzdem nicht zur Wahl gehen werden.
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Von oben betrachtet leuchtet Europa. Und aus der Nähe?
abendzeitung Von oben betrachtet leuchtet Europa. Und aus der Nähe?

Kann man überzeugter Europäer sein und dennoch der Europawahl fernbleiben? Ja, man kann. Vielleicht sollte man sogar. Woran es liegt, dass so viele Menschen für Europa sind und trotzdem nicht zur Wahl gehen werden.

Es war wieder mal ein großer europäischer Abend: Millionen Deutsche vor den Fernsehschirmen. Die Besten aus ganz Europa, die sich einen faszinierenden Schlagabtausch liefern. Emotionen von himmelhoch-jauchzend bis zu Tode betrübt – und am Ende gelöste Partystimmung, in der Menschen aus allen Nationen Europas zusammenfinden. Ist es nicht fantastisch, dieses Europa?

Leider ist hier gerade nicht von Europapolitik die Rede. Sondern vom Finale der Champions League vor zwei Wochen. Zugegeben, der Vergleich zwischen Politik und Fußball hinkt. Aber nur ein bisschen. Denn die Champions League zeigt, wie faszinierend ein übernationaler Wettbewerb sein kann, wenn die Voraussetzungen stimmen: Das Personal muss erstklassig sein und das Niveau überragend. Der Austragungsmodus muss klar und verständlich sein. Und schließlich: Unterhaltungsfaktor und Spannung müssen stimmen.

Nichts davon trifft auf das politische Europa zu. Politiker, die keiner kennen will, wollen gewählt werden zu einem Zweck, den keiner versteht, und von dem am Ende auch niemand etwas wissen will. Das ist die bittere Wahrheit über das Europaparlament. In dieser Woche erbrachte eine Umfrage, wieviele deutsche Wahlberechtigte wissen, wer der deutsche CDU-Spitzenkandidat ist. Es waren unfassbare zwei Prozent. Kein Wunder, könnte man spotten: Hans-Gert Pöttering ist schließlich der Präsident des Europäischen Parlaments.

Dabei mühen sich viele redlich. An mangelndem persönlichen Einsatz liegt es nicht und auch nicht daran, dass in Parteien und Medien zuwenig über Europa gesprochen würde.

Die Menschen haben ein feines Gespür

Die Unlust vieler Wähler an Europa hat einen anderen, sehr guten Grund: Sie sind keine schlechten Europäer. Sie sind nur anspruchsvoll. Die Menschen haben ein sehr feines Gespür dafür, ob ihnen eine Mogelpackung vorgesetzt wird oder nicht. Ein Parlament zu wählen, bei der alles entscheidenden EU-Kommission aber nicht mitreden zu dürfen– das ist kein parlamentarisches Niveau, wie es die Bürger von zuhause gewohnt sind. Trotz mancher Reformen ist das Parlament nie über den Status einer Alibi-Show herausgekommen. Ständig von der enormen Bedeutung Europas erzählt bekommen und gleichzeitig sehen müssen, wie Europas Staaten das Parlament als zweitklassige Veranstaltung abtun: Das stößt den Menschen auf und das stößt sie ab.

Theo Sommer hat es in dieser Woche in der „Zeit“ auf die Formel gebracht: „Europa ist einfach nicht ,hip’. Es hat null Sexappeal.“ Das trifft es ziemlich gut. Oder hat jemand eine leidenschaftliche Debatte aus dem Europaparlament in Erinnerung? Einen dramatischen Zusammenprall, eine Intrige, eine gute Show?

Die mangelnde Wertschätzung demonstrieren Europas Politiker selbst am besten: Berlusconi stellt seine Kandidatenliste offenbar bei der Playboy-Lektüre zusammen, Sarkozy entsorgt die ungeliebte Ministerin Dati in Brüssel. Und Horst Seehofer setzt auf Hohlmeier und plumpe Anti-Türkei-Reflexe.

Man muss kein Europa-Feind sein, um darauf mit Wahlverweigerung zu reagieren. Man muss sich auch deswegen kein schlechtes Gewissen einreden lassen, wie es derzeit in fast jedem Wahlspot, in jeder EU-Fernsehsendung und in jeder Wahlkampfrede passiert. Dort ist die Argumentation über alle Parteigrenzen hinweg stets die gleiche: Wir haben der europäischen Einigung eine auf unserem Kontinent so noch nie dagewesene Periode von Frieden und Wohlstand zu verdanken. Und deswegen, liebe Wähler, wäre es einfach richtig gemein, wenn Ihr Euch dieser Wahl verweigert.

Es sind nicht nur die Undankbaren und Verweigerer

Teil eins des Arguments ist richtig, Teil zwei ist unzulässig und erbost die Menschen zusätzlich. Denn gewählt wird nun mal nicht aus Dankbarkeit für vergangene Taten. Wählen heißt Interessen zum Ausdruck bringen, Macht und Einfluss geltend machen. Und deswegen sind es nicht nur die Undankbaren und die Politikverweigerer, die bei dieser EU-Wahl nicht mitmachen. Es sind auch diejenigen, denen aus enttäuschter Liebe und aus tiefem Frust keine andere Wahl als die Nichtwahl bleibt. Oder, anders gesagt: Hinter dem Nichtwählen kann sehr viel mehr Überlegung stecken als hinter routinemäßigem Kreuzchenmachen.

Nicht dass wir uns falsch verstehen: Es gibt sehr wohl gute Gründe, sich an der Europawahl zu beteiligen. Zum Beispiel, dass jede nicht abgegebene Stimme Radikalen und Sektierern nützt, weil eine niedrige Wahlbeteiligung deren kleine Stimmenanteile prozentual in die Höhe treibt. Oder dass es dem EU-Parlament noch mehr schadet, wenn wenige Menschen zur Wahl gehen, weil dann seine demokratische Legitimation noch weiter sinkt. Und auch die Frage, ob man ein demokratisches Recht einfach so wegwerfen sollte, ist höchst berechtigt.

Die Frage ist nur: Ist Europa auf dem richtigen Gleis, wenn einen allein solche Negativstrategien zur Stimmabgabe bewegen können? Demokratisches Feuer und Leidenschaft sehen anders aus. Und wenn die Wähler das Gefühl hätten, dass ihre Stimme zählt, dann würden sie von selbst an die Urnen strömen. Doch es ist eben wie beim Fußball: Wenn nur die zweite Liga spielt, dann gehen halt auch weniger hin.

Frank Müller

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