"Europa neu erfinden"

Vier Tage vor der Europawahl fordert der ehemalige Bundespräsident im AZ-Interview Reformen, damit der alte Kontinent konkurrenzfähig bleibt – nicht nur wirtschaftlich
Matthias Maus |
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Alt-Bundespräsident Roman Herzog fordert Reformen für die EU.
dpa Alt-Bundespräsident Roman Herzog fordert Reformen für die EU.

AZ: Herr Bundespräsident, am Sonntag wird in Europa gewählt. Sie fordern, Europa neu zu erfinden. Das klingt grundsätzlich, und, mit Verlaub, radikal. Was verbirgt sich dahinter?

ROMAN HERZOG: Wir wissen spätestens seit der Euro-Krise, dass in Europa einiges richtig schief läuft. Es geht darum, sich nach der Überwindung dieser Krise noch einmal grundsätzlich Gedanken zu machen über die Aufgaben der europäischen Institutionen.

Sie beklagen eine Normenflut und fordern Reduzierung von 40 bis 50 Prozent der Verordnungen. Das hört sich ehrgeizig und utopisch an...

Das kann sein. Die Entstehung dieser Normenmasse ist ja ein irrationaler Vorgang. Die Summierung ist gefährlich. Und wenn man einen irrationalen Vorgang hat, kann man auch irrational dagegen vorgehen. Mein Vorschlag: Im Lauf von zehn Jahren jedes Jahr eine bestimmte Anzahl von Vorschriften beseitigen und sehen, was passiert. Im Allgemeinen wird überhaupt nichts passieren. Das kennen wird auch bei unserer deutschen Normenflut.

Wer soll das leisten?

Da würde ich drei bis vier Kommissionen für die Rechtsbereiche der EU einsetzen mit dem Auftrag: Ihr schlagt jedes Jahr 500 Paragrafen zur Streichung vor. Punkt!

Ketzerisch gefragt: In einer immer komplizierter werdenden Welt, sind zu viele Regeln nicht besser als zu wenige?

Das kommt auf den Gegenstand an. Ich sehe ja ein, dass in einem gemeinsamen Markt für die Wirtschaft auch mehr Vorschriften existieren müssen, aber im Familienrecht beispielsweise gibt es Übergriffe, die man ohne weiteres bei den Nationen lassen könnte.

Sie bemängeln die Einmischung in zu viele kleine Dinge. Andererseits sagen Sie, die nationalen Regierungen haben die Macht über die großen Entscheidungen nicht an Europa abgegeben. Das ist eine doppelte Kritik an Mikromanagement und Machtlosigkeit. Sollten die Nationalstaaten mehr Befugnisse an Europa abgeben?

Da gibt es unterschiedliche Bereiche. Europa muss sich, um seinen Wohlstand und seine Werte zu erhalten, gegenüber den neu entstehenden Machtblöcken – in Asien, in Nordamerika, in Südamerika – zur Wehr setzen. Dazu braucht es mehr außenpolitische Kompetenzen.

Aber gerade da gibt es bei den Mitgliedsländern wenig Neigungen, Kompetenzen abzugeben.

Wenn sie Angst bekommen, dann wird sich das schon ändern. Wenn wir das nicht brauchen, dann sind wir gut bedient. Dann bin ich der Letzte, der zu solchen Änderungen hetzt. Aber ich sehe die Zukunft schwieriger.

Sie fordern ein starkes Europa. Wie sieht das aus?

Es ist imstande, sich gegen- über den anderen nachrückenden Mächten auf den Märkten durchzusetzen. Es geht aber auch um unsere Überzeugungen: in Freiheit zu leben, in Offenheit, mit Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit. Ich sehe keinen Grund, das aufzugeben, nur weil andere das anders behandeln.

Erlebt Europa nicht gerade eine Renaissance als Magnet, als Modell für die Nachbarn?

Das ist schon in Ordnung. In Teilen Asiens ist das aber anders. Da herrscht die Überzeugung vor: Mit euch werden wir schon fertig!

Sie beklagen Demokratiedefizite in der EU. War die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl zu kippen, hilfreich?

Radikale werden jetzt stärker. Ich habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass ich ein Anhänger der Fünf-Prozent-Hürde in Deutschland bin, ich hätte mir das auch für das europäische Parlament gewünscht.

Sollte der Spitzenkandidat des Wahlsiegers auch nächster EU-Kommissions-Präsident werden?

Welchen Sinn hat denn eine Wahl, wenn der Wahlsieger dann nicht in die Verantwortung geht?

Werden wir eines Tages die Vereinigten Staaten von Europa haben?

Das glaube ich nicht. Es ist auch nicht erstrebenswert. Interview: Matthias Maus

 

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