Erziehungsexperte Zierer: "Kunst, Musik und Sport sind die wichtigsten Fächer"

Mehr Demokratie in der Schule, mehr Fokus auf Kunst, Musik und Sport, eine andere Lernkultur. Der renommiertesten Pädagogik-Professoren der Republik sagt im Interview mit der AZ, was im Schulwesen anders laufen muss.
von  Natalie Kettinger, Martin Balle
Kinder in der Schule.
Kinder in der Schule. © Marijan Murat/dpa

Klaus Zierer (57) ist Erziehungswissenschaftler und Hochschullehrer aus Dingolfing. Er ist seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Mit der AZ spricht er darüber, was sich an den Schulden ändern muss.

Der Erziehungswissenschaftler (47) und Hochschullehrer aus Dingolfing ist seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Foto: Bernd Wackerbauer
Der Erziehungswissenschaftler (47) und Hochschullehrer aus Dingolfing ist seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Foto: Bernd Wackerbauer © © Bernd Wackerbauer

AZ: Herr Zierer, wie gut ist unser Schulsystem?
Klaus Zierer: Es ist marode. Wir haben in den letzten Jahren zwar so viel Geld wie noch nie hineingesteckt, aber Geld allein führt nicht zu Bildungserfolg und einer pädagogischen Atmosphäre. Wir müssen weg von den Quantitäten und stärker auf die Qualitätsebene schauen.

Wo genau hakt es?
In allen Bereichen: Wir haben Lehrpläne, an denen sich seit 40 oder 50 Jahren im Grunde nichts verändert hat. Es gab zwar Reformen - aber an der falschen Stelle. Auch die Lehrerbildung stagniert seit Jahrzehnten. Außerdem schwinden die Erziehungs-Koalitionen - also Schule/Elternhaus oder Schule/Vereine - durch die Zunahme von Familienentwürfen und einen gewissen Wertepluralismus. Es wird oft nicht mehr an einem Strang gezogen, manche ziehen sich zurück und übernehmen keine Erziehungsverantwortung mehr. Da wird von den Schulen viel nach Hause delegiert...

... und von zu Hause zurück an die Schulen.
Genau - und letztendlich passiert: nichts. Hinzukommen äußere Faktoren wie die Heterogenität der Lernenden, Stichwort: Migrationshintergrund. Außerdem verändert die Digitalisierung das Leben und Lernen von Kindern und Jugendlichen. Wir haben es mit einer hochkomplexen Situation zu tun.

Was würden Sie an den Lehrplänen konkret ändern?
Wir brauchen eine Entrümpelung und eine Neugewichtung. Bei den Lehrplänen wird seit Jahren tendenziell nach Vollständigkeit getrachtet. Aber wenn man Kinder vollstopft mit Sachen, die für ihre Lebenswelt bedeutungslos sind, verlieren sie die Lust am Lernen. Deshalb müssen wir weniger in die Breite und mehr in die Tiefe gehen. Wir müssen Orientierungswissen anbahnen nach dem Motto: Welchen Sinn und welche Bedeutung hat dieses Wissen für mich? Wie kann ich es nutzen? Das geschieht häufig nicht. Ein Beispiel aus der vierten Klasse Grundschule, wo in Mathe folgende Aufgabe gestellt wird: Ein Kind steht vor seinem Kleiderschrank. Darin sind vier Pullover, sechs Hosen und drei Paar Schuhe. Wie viele Kombinationen kann das Kind daraus anziehen? Das ist keine Frage, die sich ein Kind stellt. Also, was soll das?

"Wir haben leider keine konstruktive Fehler-Kultur"

So weit zur Entrümpelung. Was meinen Sie mit Neugewichtung?
Wir müssen die wichtigsten Fächer mehr nach vorne rücken: Kunst, Musik und Sport. Das sind die bildungswirksamsten Fächer: die kooperativsten, die kreativsten, die kommunikativsten - und diejenigen, in denen eine absolut konstruktive Fehlerkultur herrscht, mehr als in jedem anderen Fach: Wer ein Musikinstrument lernen möchte, muss mit Fehlern umzugehen lernen. Dasselbe gilt für jemanden, der im Sport etwas erreichen möchte. Deshalb müssen wir diese Fächer nach vorne bringen. Aktuell haben wir in den Schulen leider keine konstruktive Fehler-Kultur.

Wie meinen Sie das?
Fehler gelten als etwas Schlechtes, das es zu vermeiden gilt. Das führt aufseiten der Lernenden zu Angst, Demotivation und Kreativitätsverlust - zu allem also, was lernhinderlich ist. Wir bräuchten aber eine konstruktive Fehler-Kultur, in der der Fehler als Motor des Lernens gesehen wird.

Angesichts der jüngsten Pisa-Misere wird im Freistaat aktuell darüber gestritten, welche Fächer an Grundschulen zusammengestrichen werden, damit mehr Deutsch und Mathematik unterrichtet werden kann. In der Diskussion sind just die Fächer, die Sie gerade als die wichtigsten bezeichnet haben, plus Religion. Was sagen Sie dazu?
Bitte nicht, auch nicht Religion! Diese sinnsuchende Perspektive ist wichtig für einen Menschen und wir müssen uns darum kümmern. Wenn wir dieses Feld nicht bespielen, überlassen wir es den Sozialen Medien oder falschen Propheten. Und wahrscheinlich bräuchten wir gar keine zusätzlichen Stunden, wenn wir einen besseren Unterricht hätten inklusive einer Kultur des regelmäßigen, herausfordernden, vielfältigen Übens - in Mathematik genauso wie in der Rechtschreibung. Und da sind wir wieder bei der Fehler-Kultur: Wir müssen den Fehler als wichtigen Punkt sehen, an dem ich erkenne, wo ich noch weiter üben muss.

Sie fordern einen "Masterplan Bildung". Was gehört noch dazu?
Die Lehrer-Bildung: Sie krankt häufig daran, dass wir diese jungen Menschen zu Wissens-Vermittlern ausbilden. Dabei sind sie im Kern Bildungs-Agenten mit einem Bildungs- und Erziehungsauftrag. Das steht in der Bayerischen Verfassung, Artikel 131, wo der erste Satz heißt: "Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern Herz und Charakter bilden". Und in der Folge werden nicht Fächer genannt, sondern Werte wie die Ehrfurcht vor Gott, Liebe zur bayerischen Heimat, Achtung vor der Würde des Menschen, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne sowie die Erziehung im Geiste der Demokratie und im Sinne der Völkerverständigung. Mit diesem werte-erzieherischen Fundament von Schule muss man sich in der Lehrer-Bildung auseinandersetzen. Nicht nur mit Fachwissen, Fachwissen, Fachwissen.

Ab kommendem Schuljahr soll es an Bayerns Schulen eine wöchentliche "Verfassungsviertelstunde" geben. Richtige Richtung - oder Feigenblatt?
Wenn nicht mehr passiert, ist es ein Feigenblatt. Es ist eine pfiffige Idee, aber damit allein kann man das große Thema Demokratie-Bildung nicht abdecken.

"Wir haben den Diskurs oft verlernt"

Was braucht es außerdem?
Wir müssen da systemisch ran. Schule in einer Demokratie muss eine demokratische Schule sein. Demokratie ist schließlich nicht nur ein politisches System, sondern eine Lebensform. Also muss die Frage lauten: Welche Strukturen muss es in der Schule geben, damit das funktioniert?

An welche demokratischen Strukturen denken Sie?
An Schülerparlamente zum Beispiel, also an die Möglichkeit, Schüler zur Mitbestimmung zu befähigen und sie einzubinden in aktuelle Debatten. Das ist heute nicht der Fall. Wenn ich meine 800 bis 1000 Studierenden frage, was sie an demokratischen Elementen in der Schule mitbekommen haben, war bei 99 Prozent die Klassensprecher-Wahl das einzige.

Klaus Zierer (l.) im Gespräch mit AZ-Verleger Martin Balle und Politik-Chefin Natalie Kettinger. Foto: Bernd Wackerbauer.
Klaus Zierer (l.) im Gespräch mit AZ-Verleger Martin Balle und Politik-Chefin Natalie Kettinger. Foto: Bernd Wackerbauer. © © Bernd Wackerbauer

Aber es gibt doch die Schüler-Mitverantwortung SMV.
Die SMV betrifft aber nur wenige. Das Demokratische muss sich an alle richten, durch alle Bereiche hindurchziehen und mit tagesaktuellen Themen bestückt werden. Zwei Beispiele: Echte, also offene Debatten über den Ukraine-Krieg gibt es selten und das Thema Nachhaltigkeit wurde mehr auf den Straßen als in den Schulen bespielt.

Wo würden Sie die Auseinandersetzung mit diesem Thema denn ansetzen?
Ein solches Thema muss ins Schülerparlament hinein! Da muss diskutiert werden, wie sich die Schule dazu verhält. Schließlich gibt es an jeder Schule Kinder mit unterschiedlichen Hintergründen. Kurz nach Ausbruch des Ukraine-Krieges habe ich mitbekommen, dass ein russischer Bub von einem Lehrer derart angegriffen worden ist, dass er weinend aus dem Klassenraum gelaufen ist. Das kann es doch nicht sein! Das hat nichts mit Demokratie zu tun. Demokratie lebt vom Meinungsstreit, von Diskussion und Auseinandersetzung. Die führen wir aber häufig nicht. Auch, weil es viele Erwachsene nicht mehr können. Deshalb muss das in der Schule gelernt und gelebt werden. Jetzt müsste man etwa über die großen Demonstrationen diskutieren: Wer demonstriert? Wofür? Woher kommt rechts und links eigentlich und was lässt sich darunter verstehen? Was bedeutet rechtsextrem?

"Für mehr Geld würden viele mehr unterrichten"

Sie haben zuletzt immer wieder vor einer Krise der Demokratie und einem Auseinanderdriften der Gesellschaft gewarnt. Mittlerweile haben deutschlandweit mehr als zwei Millionen Menschen für die Demokratie und gegen Rechtsextremismus demonstriert. Das müsste Sie doch hoffnungsvoll stimmen.
Zunächst einmal zeigt jede Demonstration, dass die Gesellschaft in der Lage ist, ihre demokratischen Rechte wahrzunehmen und auf die Straße zu gehen. Gleichzeitig ist es aber auch ein Ausdruck dessen, dass die politischen Systeme insgesamt nicht mehr in der Lage sind, breite Teile der Gesellschaft zusammenzuführen. In einer intakten gelebten Demokratie gelingt es, die Ränder möglichst klein zu halten. Aktuell erleben wir leider das Gegenteil. Dass der rechte Rand in einigen Bundesländern über 30 Prozent Zustimmung erreicht, ist ein massives Problem für die Demokratie. Darüber muss in der Schule diskutiert werden.

Wo sollen all die Lehrerinnen und Lehrer herkommen, die das leisten? Im Freistaat fehlen jetzt schon Tausende.
Die Politik hat das Thema viel zu spät erkannt. Eigentlich hätte man sich längst eine kurz-, eine mittel- und eine langfristige Strategie überlegen müssen. Aber nichts ist passiert. Man doktert einfach irgendwo rum. Kurzfristig hätte ich es zum Beispiel wichtig gefunden, dass man das Personal im bestehenden System nutzt. Wir haben Milliarden in die Digitalisierung gesteckt. Aber daraus ist nicht mehr geworden als das Sprachlabor 2.0. Auch das ist einst überall gefeiert und dann rausgerissen worden: Elektro-Schrott. Im Moment läuft es ähnlich: Wir digitalisieren alles, was an Schulen digitalisierbar ist, hinterfragen aber nicht, ob das überhaupt sinnvoll ist. Dieses Gießkannen-Prinzip ist Schmarrn.

Was hat die Digitalisierung mit dem Lehrermangel zu tun?
Wir wissen aus Befragungen, dass Lehrpersonen durchaus bereit sind, mehr zu unterrichten, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Aber dieses Mehr an Unterricht wird im Grunde nicht oder nicht ausreichend honoriert. Deswegen tun sich das viele nicht an. Für mehr Geld würden hingegen viele mehr unterrichten. Also nehme ich doch das Geld, das ich habe, und nutze das vorhandene Personal, um die Lücken zu schließen. Das könnte man befristen, bis der Lehrermangel beseitigt ist, wonach es über kurz oder lang aussieht, weil die Schülerzahlen sinken. Doch stattdessen kaufen wir Laptops und lassen Stunden ausfallen. Das macht keinen Sinn. Mittelfristig könnte man die Situation zusätzlich durch Quereinsteiger abfedern und langfristig muss die Lehrerbildung vom Kopf auf die Füße gestellt werden.

Was halten Sie von dem Vorstoß des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, die Teilzeit-Möglichkeiten für Lehrkräfte einzuschränken?
Schwierig. Damit würden zu viele vergrault. Ein Großteil der Lehrpersonen in Teilzeit hat für sich erkannt, dass mehr nicht zu schaffen ist - weil sie Kinder haben oder wegen der psychischen Belastung, es gibt viele Gründe. Sie zu Mehrarbeit zu zwingen, halte ich für falsch.

Gleichzeitig plädieren Sie für Sommerschulen, also Unterricht auch in den Ferien. Warum?
Weil wir wissen, dass Sommerschulen einen nachhaltigen Effekt haben. Man spricht von einem "flying start": Die Kinder bereiten sich in den Ferien vor und kommen quasi "fliegend" in die Klassenzimmer. Sie haben wiederholt, kennen ihre Vokabeln, haben sich die mathematischen Formeln nochmal angesehen. Sie starten bestens vorbereitet ins neue Schuljahr.

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