Interview

Darum sind sie so gefühlstaub: Der tiefe Schmerz der Kriegskinder

Annette und Hauke Goos haben alte Menschen nach Dingen gefragt, die sie an den Krieg erinnern. Ein Gespräch über Schuld, Kälte, Reue und den Schmerz, der nicht vergeht.
Martina Scheffler
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Erinnerung an den gefallenen Vater: eine Trillerpfeife aus dem Zweiten Weltkrieg.
Erinnerung an den gefallenen Vater: eine Trillerpfeife aus dem Zweiten Weltkrieg. © Dmitrij Leltschuk

AZ: Frau Goos, Herr Goos, Erinnerungsstücke an den Krieg – warum ist so ein Buch wichtig?
HAUKE GOOS: Das Buch erzählt, was Krieg zerstört, welche Spuren er hinterlässt, über Generationen hinweg. Und es erzählt von einer großen Sprachlosigkeit in den Familien. Ich bin Jahrgang 1966, meine Frau 1967. Wir haben beide Eltern, die sehr sachlich waren, sehr kontrolliert. Viele aus unserer Generation werden sich da wiederfinden, weil sie unter dieser Sprachlosigkeit gelitten haben, unter der Gefühlstaubheit der Eltern. Die Frage ist einfach drängend: Was ist mit diesen Eltern los? Es geht darum, sie zu verstehen. Denn nur, wenn wir unsere Eltern verstehen, können wir auch uns verstehen.

Hauke Goos und Annette Goos.
Hauke Goos und Annette Goos. © Dmitrij Leltschuk

Sie sprechen in Ihrem Buch von den Kriegsenkeln. Wer ist das eigentlich?
ANNETTE GOOS: Kriegsenkel, das sind die Kinder der Kriegskinder, der Jahrgänge 1928 bis etwa 1946 also – jener, die im Krieg Kinder waren und die deshalb keine Schuld trifft. Natürlich mag in der Familie der eine oder andere Schuld auf sich geladen haben, die Großeltern etwa, aber das war nicht unser Thema. Uns ging es darum herauszufinden, was die Kriegskinder erlitten, was sie geleistet haben, um nach den Traumatisierungen wieder ins Leben zu finden.

Als der Krieg nach Deutschland kam: "Die Eltern waren komplett überfordert"

Sind alle Kriegskinder traumatisiert worden?
ANNETTE GOOS: Nicht jedes Kriegskind ist automatisch traumatisiert – manche hatten das Glück, Eltern zu haben, die ihr Kind beschützen konnten. Die ihm, im Luftschutzkeller beispielsweise, das Gefühl gaben: Ich bin bei dir. Ich beschütze dich. Entscheidend für eine Traumatisierung war offenbar, ob ein Kind alleingelassen wurde in seiner Angst. Das war ja oft so, weil die Eltern selber komplett überfordert waren, die Mütter in der Regel allein, die Väter an der Front.

Woher kam diese auffällige Sprachlosigkeit bei vielen Kriegskindern?
ANNETTE GOOS: Das liegt auch an der damaligen Erziehung. Konkret: an Johanna Haarer und ihrem Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind". Kinder durften keine Bedürfnisse haben und keine Gefühle äußern. Alle vier Stunden wurden sie zum Wickeln und Füttern hochgenommen und danach wieder abgelegt. Der sachliche Mensch, das war das Ideal. Die Kriegskinder haben kein Gefühl für sich entwickeln können, deshalb können sie auch nicht über Gefühle sprechen. Über sich. Darüber, wie es ihnen geht. Diese Gefühlstaubheit führte dann dazu, dass sie auch weniger Verständnis für die Sorgen ihrer eigenen Kinder hatten. Dir geht es doch gut. Reiß dich zusammen. Stell dich nicht so an. Was willst du denn, was ist ein aufgeschlagenes Knie im Vergleich zu dem, was wir alles verloren haben?

Die Schuld für den Krieg: "Wir Kinder fragen vielleicht oft auch zu überheblich"

Sie haben für Ihr Buch auch den Kinderbuchautor Paul Maar, seinen Sohn und seinen Enkel befragt. Der Enkel ist sehr viel unbefangener, was den Umgang mit der Vergangenheit angeht.
ANNETTE GOOS: Richtig. Wir Kinder fragen vielleicht oft auch zu überheblich. Es geht uns meist nur um das Thema Schuld. Wie kann es denn sein, dass ihr nichts wusstet, warum habt ihr nicht gegen Hitler rebelliert? Bei solchen Fragen verschließen sich die Eltern natürlich sofort. Sie müssen ihr Leben vor dem Hintergrund der Shoah rechtfertigen.

Wenn man heute miteinander sprechen will über die Kriegszeit, wie sollte man das anfangen?
HAUKE GOOS: In unseren Begegnungen haben wir festgestellt: Ein Erinnerungsstück aus der damaligen Zeit kann helfen, überhaupt ins Gespräch zu kommen. Das funktioniert wie ein Türöffner. Warum hast du das bis heute aufgehoben? Warum hängt daran dein Herz?

Ein Mädchen aus einem Flüchtlingstreck mit seiner Puppe im Arm um 1945. Viele Kriegskinder besitzen auch heute noch Erinnerungsstücke an die Kriegszeit, darunter nicht nur Puppen, sondern auch einfache Dinge wie eine Suppenkelle oder eine Trillerpfeife.
Ein Mädchen aus einem Flüchtlingstreck mit seiner Puppe im Arm um 1945. Viele Kriegskinder besitzen auch heute noch Erinnerungsstücke an die Kriegszeit, darunter nicht nur Puppen, sondern auch einfache Dinge wie eine Suppenkelle oder eine Trillerpfeife. © US Army/dpa

Es ist ein Unterschied, ob man über etwas Abstraktes wie Todesangst, Not, Einsamkeit oder Trauer redet oder ob man etwas in der Hand hat und sagt: Erzähl mal. Dann ergibt sich vieles.
ANNETTE GOOS: Wichtig ist, dass man zuhört, ohne zu werten. Im Buch erzählen die Menschen teilweise unfassbare Dinge nahezu regungslos. Sie berichten aber immer nur die Fakten. Sie sagen kaum, was das Erlebte mit ihnen gemacht hat. Erst wenn man sagt, das muss ja furchtbar für Sie gewesen sein, wie haben Sie das ausgehalten?, kommen langsam auch die Gefühle durch.
HAUKE GOOS: Die Kriegsgeneration hat Unvorstellbares erlebt. Manche haben verkohlte Leichen gesehen, waren dabei, als ihre Mutter starb, oder litten später unter dem prügelnden Vater, der zerstört aus dem Krieg zurückkam. Trotzdem sind sie in der Überzeugung aufgewachsen, all das sei relativ spurlos an ihnen vorübergegangen. Das ist natürlich eine Illusion. Da hilft es schon, anzuerkennen, dass das eben nicht läppisch war, sondern existenzerschütternd.
ANNETTE GOOS: Wir haben einen 91-Jährigen aus Hamburg besucht. Er war mit der Kinderlandverschickung nach Wien gekommen, ganz allein, und dort erkrankte er an Tuberkulose. Er sagte uns, er sei vor Heimweh beinahe zugrunde gegangen. Als er nach einem Jahr wieder nach Hause durfte, war niemand am Bahnhof, um ihn abzuholen. Während er das erzählte, holten ihn dieses Heimweh und dieser Schmerz ein und er fing an zu weinen. Ein 91-Jähriger, der von einer Zeit erzählt, die über 80 Jahre zurückliegt. Das zeigt, wie tief diese Wunden sind.

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Ist das über die Einzelfälle hinaus ein gesamtgesellschaftliches Thema, über das noch zu wenig gesprochen wird?
HAUKE GOOS: Was die Gefühle dieser Kriegskinder anbelangt: ja. Weil es häufig nur um die Schilderung von Fakten ging. Deutschland ist in einem historischen Ausmaß schuldig geworden, und gleichzeitig haben Deutsche sehr schlimme Dinge erlebt. Das eine wird nicht kleiner, indem wir über das andere sprechen.
ANNETTE GOOS: Es ist unsere Hoffnung, dass die Leute sagen: Ich gehe zu meinen Eltern, vielleicht haben die auch so einen Gegenstand voller Erinnerungen. Und daraus ergeben sich dann Fragen. Ich selbst habe diese Fragen an meine Eltern nicht mehr stellen können. Wie viel besser hätte ich meinen Vater verstanden, wenn ich gewusst hätte, was er als Kind im Krieg erlebt hat.
HAUKE GOOS: In diesen Erinnerungsgegenständen ist ja ein Gefühl konserviert. Der 91-Jährige, von dem wir eben sprachen, kam nach dem Kriegsende einige Monate in einer Pflegefamilie unter. Sehr viel später kam er noch einmal an deren Bauernhaus vorbei. Der Hof war längst verlassen. Er ging hinein und nahm eine Suppenkelle mit. Warum? Weil sie ihn bis heute daran erinnert, wie schön es gewesen wäre, eine Familie zu haben, in der er sich geborgen fühlt.

Rita Süßmuth, ehemalige Bundestagspräsidentin, zählt zu den Befragten im Buch "Warum hängt daran dein Herz" von Annette Goos und Hauke Goos.
Rita Süßmuth, ehemalige Bundestagspräsidentin, zählt zu den Befragten im Buch "Warum hängt daran dein Herz" von Annette Goos und Hauke Goos. © Bernd von Jutrczenka/dpa

"Es ist eine Frage des Respekts und der Wertschätzung"

Welche Bedeutung hat es über die persönliche Ebene hinaus, wenn dieses Gespräch mit den letzten Kriegszeugen noch geführt werden kann?
HAUKE GOOS: Ich finde, es ist eine Frage des Respekts und der Wertschätzung. Den Kriegskindern, den heute 80-, 85-Jährigen zuzugestehen, dass sie als Kind Schlimmes erlebt haben.
ANNETTE GOOS: Vielleicht helfen uns die Erzählungen der Kriegskinder auch in der jetzigen Flüchtlingskrise: weil man begreift, dass hinter all den Zahlen immer Geschichten stehen. Geschichten, die irgendwann vielleicht auch Kinder aus der Ukraine erzählen werden. Geschichten geben dem Krieg ein Gesicht. Viele unserer Gesprächspartner waren ängstlich, was die jetzige Situation angeht. Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth hat es sehr aufgewühlt, dass Waffen geliefert werden. Wenn man mit jemandem über den Krieg spricht, der ihn wirklich erlebt hat, begreift man, wie viel Schrecken Krieg mit sich bringt und wie weit die Folgen in die nächsten Generationen reichen.
HAUKE GOOS: All diese Geschichten sind auch ein historischer Schatz, den wir heben sollten. Damit wir wissen, worüber wir reden, wenn es um Krieg geht.


Annette Goos, Hauke Goos: Warum hängt daran dein Herz? Wie Erinnerungsstücke aus der Kriegszeit helfen, unsere Eltern zu verstehen. DVA, 384 Seiten, 28 Euro.

"Warum hängt daran dein Herz?" So heißt das Buch von Annette Goos und Hauke Goos über Erinnerungsstück an den Krieg.
"Warum hängt daran dein Herz?" So heißt das Buch von Annette Goos und Hauke Goos über Erinnerungsstück an den Krieg. © DVA

Hauke Goos studierte Geschichte und leitet das Sportressort des "Spiegel". Annette Goos studierte Psychologie und Publizistik und arbeitet als Reporterin für das Fernsehen.

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  • SagI am 09.05.2024 20:33 Uhr / Bewertung:

    So traumatisiert war die große Mehrheit wohl nicht. Diese Kriegskinder haben später zugepackt, eine unglaubliche Wiederaufbauleistung vollbracht und ein Wirtschaftwunder geschaffen, was man den heutigen wehleidigen Friedenskindern wohl nicht annähernd erwarten könnte.

  • Himbeergselchts am 09.05.2024 09:45 Uhr / Bewertung:

    Ich hatte noch Gelegenheit mit Kriegskindern zu sprechen und meine Eltern waren Jahrgang 1924 und 1930. Zu all den Belastungen kam oftmals ein autoritärer, brutaler Erziehungsstil hinzu und nach dem Krieg saß Deutschland in Trümmern. Therapien gab es nicht.
    Meine Schwiegermutter war Flüchtlingskind aus Schlesien. Sie konnte nie viel erzählen, von erfrorenen Säuglingen und verhungerten Menschen am Wegesrand, ohne zu weinen. Und in Friedberg waren sie soetwas wie „Ausschuss“.
    Kinder haben Vergewaltigungen ihrer Mütter und Schwestern gesehen, beißenden Hunger, Todesangst und grauenvolle Bilder erlebt und gesehen. Verschüttet, geprügelt, als Juden gebrandmarkt… psychisch Kranke und Behinderte waren „Unwertes Leben“ …
    Meine Mutter war immer für uns da. Jedoch oft nur körperlich. Der Schmerz in ihrem Gesicht verriet mir schon als kleines Kind, dass sie häufig nicht „da war“, während sie putzte, kochte oder aufräumte. „Wir mussten erst wieder Menschen werden“. M. Friedländer

  • Der wahre tscharlie am 08.05.2024 16:35 Uhr / Bewertung:

    "Diese Gefühlstaubheit führte dann dazu, dass sie auch weniger Verständnis für die Sorgen ihrer eigenen Kinder hatten. Dir geht es doch gut. Reiß dich zusammen. Stell dich nicht so an. Was willst du denn, was ist ein aufgeschlagenes Knie im Vergleich zu dem, was wir alles verloren haben?"

    Diese Aussage der beiden Autoren bringt es recht gut auf den Punkt.

    Und ja, auch die Ukrainer*innen werden noch über Generationen hinweg unter diesem Krieg leiden, selbst wenn er irgendwann mal zu Ende ist.
    Denn Kriege töten Menschen. Auch psychisch. Was ist wohl schlimmer, im Krieg getötet zu werden, oder sein Leben lang psychisch darunter zu leiden?
    Und sind nicht alle mitschuldig, die solche angezettelten Kriege unterstützen, während der Schwächere "nur" in seiner Verteidigung unterstützt wird?

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