Erdogan verhängt Ausnahmezustand in der Türkei

Der Ausnahmezustand in der Türkei soll allein der Verfolgung der als Drahtzieher des Putschversuchs beschuldigten Gülen-Bewegung dienen. Erdogan sichert dem Volk zu, es müsse sich nicht sorgen. Steinmeier mahnt Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit an.
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Präsident Erdogan baut seine Macht in der Türkei nach dem Militärputsch im Eiltempo aus. Für die Bevölkerung solle sich während des Ausnahmezustands nichts ändern, beteuert er.
dpa Präsident Erdogan baut seine Macht in der Türkei nach dem Militärputsch im Eiltempo aus. Für die Bevölkerung solle sich während des Ausnahmezustands nichts ändern, beteuert er.

Der Ausnahmezustand in der Türkei soll allein der Verfolgung der als Drahtzieher des Putschversuchs beschuldigten Gülen-Bewegung dienen. Erdogan sichert dem Volk zu, es müsse sich nicht sorgen. Steinmeier mahnt Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit an.

Istanbul - Nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei ist der von Präsident Recep Tayyip Erdogan verkündete Ausnahmezustand in der Nacht zum Donnerstag in Kraft getreten. Noch am Donnerstag soll sich das Parlament mit der Maßnahme befassen. Das Parlament kann die dreimonatige Dauer des Ausnahmezustands verändern oder ihn aufheben, womit angesichts der klaren Mehrheit von Erdogan AKP in der Nationalversammlung nicht zu rechnen ist.

Erdogan hatte den Ausnahmezustand in der Nacht nach einer einer Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrates sowie des Kabinetts in Ankara verkündet. Unter dem Ausnahmezustand kann der Staatspräsident weitgehend per Dekret regieren. Grundrechte wie die Versammlungs- oder die Pressefreiheit können nach dem Gesetz zum Ausnahmezustand ausgesetzt oder eingeschränkt werden. Die Maßnahme zielt auf Anhänger des Predigers Fethullah Gülen ab, den Erdogan für den Putschversuch mit mehr als 260 Toten verantwortlich macht.

Lesen Sie hier: Erdogan zur Einführung der Todesstrafe bereit

Vize-Ministerpräsident und Regierungssprecher Numan Kurtulmus erklärte in der Nacht laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, vor allem die Befugnis zur Erlassung von Dekreten solle genutzt werden. Kurtulmus bezog sich auf eine "Parallelstruktur", einen Begriff, den die Regierung für die Gülen-Bewegung benutzt. "Der Ausnahmezustand wird nur dazu genutzt, die Parallelstruktur zu bekämpfen", sagte Kurtulmus. Der Ausnahmezustand betreffe nicht das Volk, sondern den Staat. Das alltägliche Leben der Bürger werde nicht beeinflusst. Auch die Arbeit des Parlaments bleibe unberührt.

Steinmeier: Ausnahmezustand so schnell wie möglich beenden

Außenminister Frank-Walter Steinmeier forderte die Türkei auf, den Ausnahmezustand auf möglichst kurze Zeit zu begrenzen. Er müsse "auf die unbedingt notwendige Dauer beschränkt und dann unverzüglich beendet" werden, sagte Steinmeier am Mittwochabend (Ortszeit) bei einem Besuch in Washington. "Alles andere würde das Land zerreißen und die Türkei schwächen, nach innen wie nach außen."

Steinmeier sagte weiter, mit der Verhängung des Ausnahmezustands werde deutlich, welch "tiefe Spuren" nach dem gescheiterten Putsch durch Politik und Gesellschaft in der Türkei gingen. Zugleich mahnte er: "Bei allen Maßnahmen, die der Aufklärung des Putschversuchs dienen, müssen Rechtsstaatlichkeit, Augenmaß und Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben."

Türkische Spitzenpolitiker versuchten zu beruhigen: Vize-Ministerpräsident Mehmet Simsek teilte via Twitter mit, der Ausnahmezustand werde weder die Pressefreiheit noch die Versammlungs- oder die Bewegungsfreiheit einschränken. Es handele sich nicht um die Ausrufung des Kriegsrechts wie unter der Militärdiktatur 1980. Das Leben gewöhnlicher Menschen werde nicht beeinträchtigt. Geschäfte würden normal weiterlaufen. "Wir sind der Marktwirtschaft verpflichtet." Die türkische Lira stürzte nach der Verhängung des Ausnahmezustands weiter ab.

Auch Ministerpräsident Binali Yildirim teilte über Twitter mit, der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand sei nicht gegen das alltägliche Leben der Menschen gerichtet. Erdogan versuchte nach der Verkündung des Ausnahmezustands gleich in mehreren nächtlichen Ansprachen ans Volk, mögliche Bedenken zu zerstreuen.

Erdogan: "Definitiv nicht das Recht, die Türkei zu kritisieren"

"Habt keine Sorge", sagte Erdogan. "Es wird im Ausnahmezustand definitiv keine Einschränkungen geben. Dafür garantieren wir." Der Ausnahmezustand sei zum Schutz der Bevölkerung und "definitiv nicht gegen Rechte und Freiheiten" gerichtet. Ziel sei es, die Demokratie und den Rechtsstaat wiederherzustellen. "Wir werden von der Demokratie keinen Schritt abweichen."

Erdogan wies Kritik aus der EU an seinem Kurs zurück. Mit Blick auf Frankreich sagte er, auch europäische Länder hätten bereits bei weniger gravierenden Anlässen den Ausnahmezustand verhängt. "Sie haben definitiv nicht das Recht, die Türkei zu kritisieren." Zur Niederschlagung des Putsches sagte Erdogan: "Wir als türkisches Volk haben ein Heldenepos geschrieben."

Über die Anhänger Gülens sagte Erdogan: "Egal wohin sie fliehen, wir sind ihnen auf den Fersen." Der Präsident forderte von den USA erneut die Auslieferung Gülens. Erdogan begründete den Ausnahmezustand mit Artikel 120 der Verfassung. Dieser erlaubt den Schritt bei "weit verbreiteten Gewaltakten zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung" oder bei einem "gravierenden Verfall der öffentlichen Ordnung".

Harte Hand gegen Gülen-Anhänger

Erstmals seit dem Putschversuch war am Mittwoch der Nationale Sicherheitsrat unter Erdogan zusammengekommen. Anschließend tagte das Kabinett unter dem Vorsitz des Präsidenten, um über neue Maßnahmen im Kampf gegen die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen zu beraten.

Seit dem Putschversuch geht die Regierung mit harter Hand gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor. Zehntausende Staatsbedienstete wurden suspendiert, mehr als 8500 Menschen festgenommen.

Unter dem Ausnahmezustand können die Behörden beispielsweise Ausgangssperren verhängen, Versammlungen untersagen und Medien-Berichterstattung kontrollieren oder verbieten. Jahrelangen Ausnahmezustand gab es früher in mehrheitlich kurdischen Provinzen im Südosten des Landes. Dieser war zuletzt Ende 2002 in den Provinzen Diyarbakir und Sirnak aufgehoben worden.

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