Entscheidungsschlacht in Libyen
TRIPOLIS Noch ist die Schlacht nicht geschlagen: Mit seinem überraschenden Auftauchen hat der gefangen geglaubte Gaddafi-Sohn Saif al-Islam bewiesen, dass der Vormarsch der libyschen Rebellen doch noch nicht so rundum erfolgreich ist wie gedacht. Es wird nach wie vor gekämpft im Hexenkessel Tripolis, vor allem rund um Gaddafis Residenz. Auch, wie es weitergehen soll in dem umkämpften Land, wer künftig die Zügel in der Hand hat, ist noch unklar.
Selbstbewusst gab er sich, angriffslustig, siegesgewiss: Saif al-Islam (39) fuhr gestern Morgen vor dem Rixos-Hotel vor, um sich den rund 30 ausländischen Journalisten zu präsentieren, die dort wohnen. Am Vortag hatten die Rebellen erklärt, sie hätten ihn gefangen genommen. Von wegen, erklärte der Zweitjüngste der Gaddafis den Reportern und lud sie zu einer Rundfahrt in seinem Konvoi durch die Stadt ein. Er fuhr sie durch Straßen voller Gaddafi-Gefolgsleute, auch an Gaddafis Residenz in Bab al-Asisija, wo rund 100 Männer auf Bewaffnung warteten, berichteten mitfahrende Journalisten. „Tripolis ist unter unserer Kontrolle. Wir haben den Rebellen das Rückgrat gebrochen. Das alles war eine Falle”, verkündete Saif al-Islam Gaddafi selbstbewusst. Wo sein Vater sei? Noch in Tripolis? „Selbstverständlich!” Unklar blieb, ob er nie gefangen war oder ob er sich befreien konnte.
Dass Tripolis noch, wie er sagte, „unter Kontrolle” der Gaddafi-Leute ist, stimmt freilich nicht: In weiten Teilen der Stadt finden Jubelfeiern über Gaddafis Sturz statt. Auch die Aufständischen führen Reporter in der Stadt herum, um zu demonstrieren, dass sie die Oberhand haben. Doch gesiegt haben auch die Rebellen noch nicht, die Lage ist diffus. „Der Sturz Gaddafis ist aber nur noch eine Frage der Zeit”, sagt die britische Regierung. Dagegen erklärte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, die Rebellen hätten erst acht Prozent des Stadtgebiets unter Kontrolle.
Am Montag hatten die Rebellen erklärt, sie würden 95 Prozent der Hauptstadt kontrollieren; gestern korrigierten sie sich auf 90 Prozent. „Die Gaddafi-Leute haben ein paar Dächer, wir haben die Straßen”, sagt ein Rebellenkommandeur. Scharfschützen zielen auf Zivilisten ebenso wie auf die teils unorganisierten Aufständischen. Dafür wurden Regierungssoldaten auch mit aufgeschlitzten Kehlen gefunden: ein schmutziger Häuserkrieg, garniert mit Racheausbrüchen und skrupellosen Söldnern. Bisher soll es beim Kampf um Tripolis 2000 Tote gegeben haben.
Vor allem um den Komplex Bab al-Asisija tobten auch gestern noch heftige Gefechte. Das Auftauchen von Sail al-Islam scheint die Moral der Gaddafi-Getreuen wieder beflügelt zu haben. Rebellensprecher Mohammed Rahman: „Solange Gaddafi nicht gefasst ist, besteht Gefahr.”
Aber was dann? Ein charismatischer Anführer ist bisher nicht sichtbar geworden – und es gibt durchaus Unterschiede. Noch hält das Bündnis der Rebellen im gemeinsamen Ziel, Gaddafi zu stürzen. Doch erste Risse werden sichtbar: zum Beispiel die Ost-West-Spaltung zwischen Bengasi und Tripolis. Oder die inhaltlichen Differenzen zwischen den jungen Leuten, die sich Richtung Westen orientieren und nach Freiheit streben, und den Islamisten. Oder zwischen übergelaufenen Ex-Gaddafi-Gefolgsleuten und den langjährigen Exilanten. Libyen, das 42 Jahre von den Launen eines Unberechenbaren beherrscht wurde, hat mit Demokratie keine Erfahrung.
Im Stillen versuchen die USA seit Wochen, die Fraktionen zu einen – bloß kein zweites Irak. „Wir lernen aus Fehlern”, sagt ein Offizieller. tan
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