Entscheidung über Erdogan
Er ist angeschlagen wie nie – am Sonntag hat der türkische Wähler das Wort
Ankara - Er hat die Wahlen am Sonntag selbst zur Abstimmung über den künftigen Kurs seines Landes ausgerufen – und auch über sich: Bei den Kommunalwahlen in der Türkei wird auch über die Zukunft von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan entschieden. Elf Jahre saß er fest im Sattel, doch jetzt ist er angeschlagen: durch die Wut der urbanen Bevölkerung nach den Taksim-Protesten, durch den Bruch mit der konservativen Gülen-Bewegung, durch mannigfaltige Korruptionsvorwürfe, durch sein immer aggressiveres Um-Sich-Schlagen – zuletzt ließ er Twitter und YouTube sperren.
Erdogan hat gleich festgelegt, was als Messlatte zu gelten hat: nämlich, ob seine AKP-Partei über das Ergebnis der letzten Kommunalwahl von 2009 kommt – damals waren es 39 Prozent. Mit dem neueren Wahlergebnis von den Parlamentswahlen 2011 (50 Prozent) könne man das nicht vergleichen. Diese Marke wird die AKP laut Umfragen auf jeden Fall verfehlen: Ihr werden 35 bis 40 Prozent prognostiziert. Offen ist, ob sie die 39-Prozent-Latte reißt. Bleibt die AKP deutlich darunter, ist das mindestens mitentscheidend, ob Erdogan zur Präsidentschaftswahl im August antritt. Und wie sich sein Standing in der Partei entwickelt: Sein Weggefährte, Präsident Abdullah Gül, zeigt deutliche Absetzbewegungen und twitterte nach dem Verbot demonstrativ weiter.
Besonders spannend wird der Kampf um Istanbul, die wichtigste und größte Stadt der Türkei: Wer hier regiert, hat die Schlüssel zur Macht im ganzen Land – auch Erdogan war hier Bürgermeister. Amtsinhaber Kadir Topbas gehört zu seiner AKP. Doch Mustafa Sarigül ist ihm dicht auf den Fersen. Der Kandidat der oppositionellen CHP ist bereits der populäre Bezirksbürgermeister des 300 000-Einwohner-Stadtteils Sisli. Er versucht, um alle Gruppen zu werben, die gegen Erdogan sind – das ist manchmal ein recht großer Spagat. Denn es gibt zum einen die liberale, urbane Taksim-Bewegung, die Erdogan zu islamistisch und zu autoritär findet. Zum anderen sind da aber die durchaus religiösen Anhänger der Gülen-Bewegung, mit der sich Erdogan überworfen hat. Sarigüls Partei CHP steht für die strikte Trennung von Staat und Religion. Also verkündet er, dass er für maximale Meinungsfreiheit und maximale Bürgermitsprache ist – und lässt sich gerne auf dem Weg in die Moschee fotografieren. Schafft er es in Istanbul, ist auch in der Hauptstadt mit ihm zu rechnen.
Schwer berechenbar bleiben die AKP-Anhänger: Denn noch immer halten viele treu zu Erdogan, weil unter seiner Ägide der Wohlstand in der Türkei deutlich zugenommen hat. Bei seinen – mit jedem Tag aggressiveren – Wahlkampfauftritten preist er sich als der einzige Garant, dass es weiter aufwärts geht. „Er genießt immer noch eine Riesensympathie im Land“, sagt Gökay Sofuoglu, Vizechef der Türkischen Gemeinde Deutschland. Sie befürchtet, dass Erdogan durch die Kommunalwahlen sogar letztlich gestärkt wird. Schafft er die 39-Prozent-Marke, seien die ganzen Affären erledigt, so Sofuoglu. Wer sogar solche Brocken wie allein die Korruptionsvorwürfe halbwegs unbeschadet übersteht, könnte danach erst recht fest im Sattel sitzen.