Düster und ungefiltert: Die geheimen Afghanistan-Protokolle

BERLIN/WASHINGTON - Das gab es noch nie: Exakt 91731 bisher geheime US-Akten zum Afghanistan-Krieg sind für jedermann zugänglich ins Internet gestellt worden. Sie zeichnen ein düsteres Bild von dem Krieg und zeigen eine neue Dimension.
Selten zuvor war es möglich, selbst detailliert und ungefiltert die Ereignisse auf den Schlachtfeldern mit den Darstellungen der Regierungen abzugleichen. Die Dokumente stehen auf der Plattform Wikileaks, ein Enthüllungsnetzwerk, das brisante Akten veröffentlichen will. Zuvor waren sie „Spiegel“, „New York Times“ und „Guardian“ zur Vorabrecherche, Analyse und Überprüfung überlassen worden. Einige der Akten sind so brisant, dass sie den Vermerk trugen, sie seien auch der afghanischen Regierung vorzuenthalten. Alle Akten datieren aus der Zeit von 1. Januar 2004 und 31. Dezember 2009. In ihnen steht unter anderem:
Das Killer-Kommando. Die Mitglieder der Task Force 373 sind US-Elite-Kämpfer, die direkt dem Pentagon unterstehen und nicht in die Befehlsstrukturen vor Ort eingebunden sind. Sie arbeiten Feindes-Listen ab: Taliban-Funktionäre, Drogenbarone, Bombenbauer, El-Kaida-Mitglieder, geordnet nach Prioritätsstufen. Oft wird den Jägern überlassen, ob sie die Zielpersonen töten oder fangen. 84 Berichte über solche Aktionen finden sich, auch schiefgelaufene: El-Kaida-Funktionär Abu Laith al-Libi wurde in einer Koranschule vermutet. Sie wurde bombardiert, in den Trümmern fanden sich fünf tote Kinder und kein Funktionär.
Kriegstreiber Pakistan. Trotz aller Beteuerungen pakistanischer Politiker: Eine Vielzahl von Dokumenten belegt, dass der pakistanische Geheimdienst ISI noch immer der wichtigste Helfer der Taliban ist – in viel größerem Umfang als bisher vermutet. Es finden sich Belege über Waffenlieferungen, gemeinsame Strategie-Treffen und sogar einzelne konkrete Mordbefehle der pakistanischen Agenten gegen den afghanischen Präsidenten Karsai und hochrangige Uno-Mitarbeiter.
Die Lage im Norden. Der Spiegel hat die Akten mit Augenmerk auf die Einsatzregion der Bundeswehr analysiert. Ergebnis: kein einziger Hinweis auf illegale Geheimoperationen oder Gewaltexzesse gegen Zivilisten – wohl aber viel Naivität in einem immer schwierigeren Terrain. „Entgegen den Erwartungen ... halten die Attacken an“, schreiben die Deutschen. Aus den Akten ergibt sich das Bild, dass auch der Norden kurz vor einem Bürgerkrieg stehe – und dass die Einschätzung, der Westen könnte 2011 generell mit dem Rückzug anfangen, weil das Land dann stabil genug sei, wohl trügen.
Die Veröffentlichung sorgte für viel Wirbel. Das Weiße Haus kritisiert, sie könne Leben gefährden. Es weist aber auch darauf hin, dass die Akten von 2004 bis 2009 stammen – also überwiegend aus der Bush-Ära. Obama habe von Anfang an offen über die Probleme geredet, so sein Sicherheitsberater James Jones. In Berlin versprach Außenminister Guido Westerwelle eine Prüfung der Dokumente. „Ich habe immer gesagt, das ist eine außerordentlich ernste Lage dort.“ Das Verteidigungsministerium dagegen erklärte, nachrichtlich stünde nichts Neues drin – und nannte die Veröffentlichung „äußerst bemerkenswert“.
tan