Interview

Donald Trump kann Wahl verlieren und doch Präsident werden: Bestseller-Autor Daniel Ziblatt klärt auf

Bestseller-Autor Daniel Ziblatt im Gespräch mit der AZ, warum Donald Trump wieder Präsident werden kann, wie es um die US-Demokratie steht und wie man mit Extremisten umgeht.
Martina Scheffler
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Donald Trump, damals Präsident der USA, während einer Wahlkampfveranstaltung 2019 im umkämpften Pennsylvania.  Matt Rourke/AP/dpa
Donald Trump, damals Präsident der USA, während einer Wahlkampfveranstaltung 2019 im umkämpften Pennsylvania. Matt Rourke/AP/dpa

Daniel Ziblatt ist Eaton-Professor für Regierungswissenschaften an der Harvard Universität und seit Oktober 2020 Direktor der Abteilung Transformationen der Demokratie am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. Im AZ-Interview spricht er über den Zustand der amerikanischen Politik.

Ziblatt ist Eaton-Professor für Regierungswissenschaften an der Harvard Universität und seit Oktober 2020 Direktor der Abteilung Transformationen der Demokratie am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. Foto: Janine Schmitz/imago
Ziblatt ist Eaton-Professor für Regierungswissenschaften an der Harvard Universität und seit Oktober 2020 Direktor der Abteilung Transformationen der Demokratie am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. Foto: Janine Schmitz/imago

AZ: Herr Professor Ziblatt, Sie sind Amerikaner und zeigen in Ihrem Buch die Mängel der amerikanischen Verfassung auf, die auch den Aufstieg eines Donald Trump ermöglicht haben. Was genau ist die Achillesferse der US-Demokratie?
DANIEL ZIBLATT: Die USA sind die einzige Präsidialdemokratie der Welt, in der man die Wahl verlieren kann und trotzdem Präsident werden. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Unsere Verfassung wurde im 18. Jahrhundert geschrieben. Es war ein progressives Dokument in jener Zeit, aber es war eine vordemokratische Zeit. Es gab eine große Angst vor der Tyrannei der Mehrheit, und so wurde die Verfassung geschrieben: um die Minderheiten zu schützen. Das ist sehr wichtig für eine Demokratie, aber es gibt in unserer Verfassung immer noch mehr schützende Elemente für Minderheiten als in allen anderen Verfassungen der Welt.

Welche sind das?
Nur wir haben unter den Demokratien ein Wahlmännerkollegium. Das nächste Problem besteht mit unserer zweiten Kammer, dem Senat. Diese Repräsentanz von Bundesstaaten gibt es zwar in allen föderalen Staaten. Bei uns aber stehen zwei Senatoren für einen Bundesstaat, egal ob sie Wyoming vertreten mit einer halben Million Einwohner oder Kalifornien mit 40 Millionen. Drittens stellt unser Bundesverfassungsgericht eine Besonderheit dar: Seine Richter können ihr Amt ihr ganzes Leben lang wahrnehmen. Wir sind die einzige Demokratie der Welt, wo dies der Fall ist. Und: Für die meiste Zeit ihrer Geschichte hat die Verfassung ländliche Gebiete überrepräsentiert. Das hatte bis ins 21. Jahrhundert keine parteipolitische Bedeutung. Beide Parteien, Demokraten wie Republikaner, hatten städtische und ländliche Flügel.

Und heute?
Erst in unserem Jahrhundert wurden die Demokraten zur Partei der städtischen Gebiete und die Republikaner zur Partei der ländlichen Gebiete. Das bedeutet: Die republikanische Partei in erster Linie genießt nun noch diese Vorteile der Verfassung. Das heißt, sie muss nicht die Mehrheit der Wähler gewinnen, um die Macht zu erlangen. Seit 1988 hat die republikanische Partei die Mehrheit der Wähler nur einmal gewonnen, war aber trotzdem die Hälfte dieser Zeit an der Macht - dank dieses Verfassungssystems.

"Wer die Mehrheit der Wähler gewinnt, muss regieren", sagt Politikprofessor Ziblatt

Sie sprechen in Ihrem Buch von der "Tyrannei der Minderheit" - ist diese noch gefährlicher als die der Mehrheit?
Es gibt viele Wege, wie eine Demokratie erkranken kann. In manchen Ländern ist die regierende Mehrheit ein Problem: Das kann man in Ungarn sehen, wo Viktor Orbán die Mehrheit gewonnen hat. Die hat er ausgenutzt, um seine Macht weiter zu vertiefen. Auch in Venezuela bei Hugo Chávez sieht man diese Tyrannei der Mehrheit, wo eine Partei ihre gegenwärtige Macht benutzt, um die Spielregeln zu ändern, damit sie diese Mehrheit nie wieder verlieren kann. In den USA haben wir das gegenteilige Problem, wo es schwierig ist für die Mehrheit, an die Macht zu kommen. Die Demokratie braucht beide Säulen: Mehrheitsherrschaft und Schutz der Minderheiten. Unsere Demokratie geht zu weit in eine Richtung.

Das ist eine Gratwanderung. Kann man das überhaupt hinreichend sicherstellen, Mehrheiten herrschen lassen und Minderheiten berücksichtigen, oder wird das immer Schwierigkeiten bereiten?
Ja, das ist schwierig, aber man kann es schaffen. Mehrheiten müssen herrschen, wenn es um Wahlen geht. Wer die Mehrheit der Wähler gewinnt, muss regieren, ob eine Partei oder eine Koalition. Es gibt kein demokratisches Prinzip, das rechtfertigen könnte, dass ein Verlierer an die Macht kommt. Auch im Parlament müssen Mehrheiten regieren. Minderheiten dürfen nicht jeden Gesetzgebungsprozess behindern können - solange dieser Prozess die Rechte der Minderheiten nicht benachteiligt, etwa bei der Religionsfreiheit oder Meinungsfreiheit. Und es dürfen die Spielregeln im demokratischen Prozess nicht so geändert werden, dass die aktuelle Mehrheit immer gewinnt.

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In der EU ist gerade das Einstimmigkeitsprinzip in der Diskussion, dass also ein Staat mit seinem Veto eine Entscheidung verhindern kann. Wäre es eine demokratische Entscheidung, das abzuschaffen?
Wenn die Mehrheit entscheidet, ist es immer demokratischer - solange die Minderheitenrechte geschützt werden. Die Demokratie ist mehr als eine Mehrheitsherrschaft, aber ohne Mehrheitsherrschaft gibt es keine Demokratie.

Manch Anachronismus wie das Wahlmännersystem der USA ist auch hierzulande als veraltet und kritikwürdig bekannt. Wie bewusst ist sich die amerikanische Öffentlichkeit des Problems mit ihrer Verfassung?
Das hat lange gedauert. Wer beispielsweise 1980 geboren ist, hat bei seiner ersten Wahl im Jahr 2000 erlebt, dass der Kandidat der Demokraten (Al Gore, d. Red.) mehr Stimmen bekommen und trotzdem verloren hat. Das ist auch 2016 (bei Hillary Clinton, d. Red.) passiert, und wenn es in diesem Jahr wieder geschieht, ist es für diesen Jahrgang schon drei Mal passiert. Wenn Donald Trump wieder ohne eine Mehrheit Präsident wird, dann wird diese Frage nach den Wahlmännern ganz massiv gestellt werden. Unsere Verfassung war sehr erfolgreich, und ein Grund für diesen Erfolg ist, dass sie oft reformiert wurde. Wir haben sie 27 Mal geändert und die Demokratie verbessert. Aber seit den 1970er-Jahren haben wir das nicht mehr gemacht. Das ist die Kernthese unseres Buches, dass wir diese Tradition wieder beleben und weiterentwickeln müssen. Also das Wahlmännergremium abschaffen, die Amtszeit der Bundesverfassungsrichter begrenzen. Ein Ziel unseres Buches ist es, diese Diskussion weiterzutreiben.

Ziblatt: "Es ist ein gefährliches Spiel zu denken, die antidemokratischen Kräfte ausnutzen zu können"

Das heißt, im Sinne der Demokratisierung der Demokratie in den USA wäre es eigentlich besser, wenn Trump noch einmal Präsident würde, weil dann der große Knall kommt?
Das wäre ein Preis, den ich nicht zahlen möchte. Was vor der Wahl wichtig ist: Wähler und Politiker, die die Demokratie unterstützen, müssen zusammenkommen. Ein demokratischer Politiker respektiert Wahlergebnisse, egal ob er gewonnen oder verloren hat. Er wendet keine Gewalt an, und eine demokratische Partei trennt sich ganz klar von antidemokratischen Extremisten. Es geht in den USA nicht nur um Trump, es geht um die republikanische Partei, die zu oft diese drei Kriterien nicht erfüllt hat. Man hat das Gefühl, dass jede nationale Wahl fast wie ein Notfall ist. Das Gefühl hatte man schon 2016, auch 2020 und dieses Jahr wieder. So wird es weitergehen - bis wir unsere demokratischen Institutionen langfristig reformieren.

Sie schreiben mit Verweis auf die Geschichte, dass loyale Demokraten jeden Kontakt, jede Verbindung mit autoritären Extremisten verweigern sollen, sie sollten sie weder tolerieren noch dulden. Die Ansicht, man könne solche Nicht-Demokraten durch Einbeziehen und die Übertragung von Verantwortung entzaubern, in Diskussionen ihre Positionen offenlegen und brandmarken - die funktioniert also nicht?
Nein. Ich verweise auf die europäische Geschichte in den 1920er- und 1930er-Jahren oder Lateinamerika in den 1960er- und 1970er-Jahren. Das ist ein gefährliches Spiel, wenn man denkt, dass man die antidemokratischen Kräfte ausnutzen kann. Denn normalerweise kommt es umgekehrt. Das ist eine Art Hybris von etablierten Politikern, die glauben, dass sie alles im Griff haben. Theoretisch kann man sich vorstellen, dass Radikale so normalisiert werden können, aber es ist ein sehr großes Risiko. Das heißt nicht, dass man die Wähler dieser antidemokratischen Parteien nicht respektieren, sie ignorieren oder ausgrenzen soll. Die demokratischen Parteien müssen versuchen, diese Wähler für sich zu gewinnen.

Was macht etwa das deutsche Grundgesetz wehrhafter als die amerikanische Verfassung in Bezug auf Angriffe von autoritären Politikern?
Das deutsche und auch europäische Verhältniswahlrecht ist ein System des 20. Jahrhunderts. Wir dagegen haben ein Mehrheitssystem aus dem 18. Jahrhundert. In Deutschland gibt es ein Mehrparteiensystem, wir haben nur zwei Parteien. Das ist ein Nachteil für die USA, denn das bringt Polarisierung mit sich. Nur 30 Prozent der Wähler sind wirklich Trump-Wähler. Aber die anderen können nur zwischen zwei Parteien wählen. Wenn wir mehr Parteien hätten, gäbe es dieses Problem nicht. Ein weiterer großer Unterschied ist, dass im Bundesrat die Bundesländer nach Proporz vertreten werden: Die größeren Länder wie Bayern haben mehr Stimmen als die kleinen wie das Saarland. Und: In Deutschland sind Wahlen über Bundesrecht geregelt, in den USA bestimmen die einzelnen Bundesstaaten. Es scheint, dass diese es erschweren, wählen zu gehen: Man wählt am Dienstag, nicht am Sonntag, man muss sich vorab registrieren und kann nicht einfach abstimmen, sobald man 18 Jahre alt ist.

"Es gibt keine technische Lösung für die Demokratie", sagt Politikexperte Ziblatt

Dennoch gibt es nicht nur in Deutschland, sondern vielen europäischen Staaten Wahlerfolge von vorwiegend rechtspopulistischen Parteien. Sind die Verfassungen in Europa wehrhaft genug, oder drohen auch hier irgendwann amerikanische Verhältnisse?
Das ist den USA und Westeuropa gemeinsam, dass etwa 22 bis 30 Prozent der Wähler diese Parteien wählen. Der Kern der AfD-Wählerschaft und der der radikalen Rechtsparteien in Westeuropa sind den Trump-Wählern sehr ähnlich. Der große Unterschied ist: Seit 2016 hat unsere Demokratie einen Rückschritt erfahren. Die Organisation "Freedom House" hat 2016 der US-Demokratie einen Wert von 93 zuerkannt, ähnlich wie Kanada, Großbritannien und Deutschland. Heute liegt dieser Wert bei 84, genau wie Rumänien und etwas weniger als Argentinien. In Westeuropa hat es so einen Absturz nicht gegeben. In Deutschland gibt es bis jetzt eine institutionelle Resilienz. Aber es braucht Wähler und Politiker, die wachsam sind.

Reichen die von Ihnen genannten Reformideen aus, um die Demokratie in den USA zu verbessern? Wie man gerade etwa angesichts des Attentats auf den slowakischen Premier Robert Fico sehen kann, schützen die europäischen Verfassungen auch nicht vor allen Gefahren...
Es gibt keine technische Lösung für die Demokratie. Es hängt von Bürgern und Politikern ab. Gewalt ist immer eine große Bedrohung für die Demokratie. In den USA hat dieser Prozess der Radikalisierung das Problem verschärft. Normalerweise muss man bei einer Wahlniederlage sehen, dass man neue Wählergruppen erschließt. Wenn eine Partei wie die Republikaner von den Institutionen profitiert und eine Wahl nicht gewinnen muss, um den Präsidenten zu stellen - Donald Trump erhielt 2016 nur 46 Prozent der Stimmen -, heißt das, dass die Republikaner nicht moderater werden müssen, um zu gewinnen.

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Wenn die Legitimität des politischen Systems in den USA durch die Vorgaben der Verfassung untergraben wird, wie Sie schreiben, inwieweit ist das eine Gefahr für die gesamte westliche Welt?
Es ist ein großes Problem. Es ist eine Sache, wenn die Demokratie in einem kleinen Land in Gefahr ist. Aber es ist ein Erdbeben, das weite Wellen verursacht, wenn es in einem so großen Land geschieht. Die transatlantische Sicherheitsallianz der Nato hängt von der Wahl in den USA ab. Und doch sind die USA immer noch ein Vorbild für die Welt. Wenn hier die Demokratie überlebt, ist das ein starkes Zeichen an autoritäre Staaten wie Russland und China. Die Stärke der Demokratie ist, dass sie sich selbst friedlich korrigieren kann.

Steven Levitsky, Daniel Ziblatt: Die Tyrannei der Minderheit. Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können; DVA, 352 Seiten, 26 Euro
Steven Levitsky, Daniel Ziblatt: Die Tyrannei der Minderheit. Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können; DVA, 352 Seiten, 26 Euro

Wie werden die Wahlen in den USA ausgehen?
Es wird sehr knapp. Es hängt von drei Bundesstaaten ab: Michigan, Wisconsin und Pennsylvania. Wer in diesen drei Staaten siegt, gewinnt die Wahl. Das zeigt genau meinen Punkt: dass es unmöglich ist, dass es in einem Land von 300 Millionen Einwohnern an nur drei Bundesstaaten hängt, wer gewinnt.


Buchhinweis: Steven Levitsky, Daniel Ziblatt: Die Tyrannei der Minderheit. Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können; DVA, 352 Seiten, 26 Euro

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  • Der wahre tscharlie am 05.08.2024 17:18 Uhr / Bewertung:

    Ein hervorragendes Interview zum Thema USA-Wahlen und Demokratie.
    Dieses Wahlmänner-System ist für meine Vorstellung von Demokratie und Wahlen eh schwer nachzuvollziehen.
    Und ein Zwei Parteien-System ist in meinen Augen sowieso nicht gut für eine Demokratie. Wenn ich mit beiden Parteien unzufrieden bin, was mach ich dann? Nicht wählen?
    Und wie im Intervew richtig gesagt, wie auch immer die Wahl in deen USA ausgeht, sie wird Auswirkungen auch auf Europa haben.

    Und die Rechtsaussen-Parteien in die Politik integrieren zu wollen, halte ich für ein sehr gefährliches Spiel. Denn sie "benutzen" jetzt schon die Demokratie um an die Macht zu kommen. Das sieht man schon an den Bündnissen, die in der EU geschmiedet wurden. Letztendlich wird die Demokratie vielleicht abgeschafft, um nur noch eine Rechtsaussenpolitik zu betreiben.

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