Disziplin: Ziviler Ungehorsam - Protest in Gorleben

Ausnahmezustand im Wendland. Für Anwohner sind die Castortage die fünfte Jahreszeit, in der ihre Sorgen wahrgenommen werden. Der Trubel hört wieder auf, der Atommüll bleibt.
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Matthias Maus, Chefreporter der AZ.
Ronald Zimmermann Matthias Maus, Chefreporter der AZ.

Ausnahmezustand im Wendland. Für Anwohner sind die Castortage die fünfte Jahreszeit, in der ihre Sorgen wahrgenommen werden. Der Trubel hört wieder auf, der Atommüll bleibt.

Anna hat „ganz wunderbar geschlafen. Besser als letzte Nacht im Camp“, sagt die 31-Jährige aus dem Münsterland. Bei Minusgraden lag sie auf der Straße, zusammen mit 1400 anderen, nur 200 Meter vom Zwischenlager in Gorleben entfernt: Es gab Suppe, „die Rettungsdecke zwischen den beiden Schlafsäcken war ein Geheimtipp“ sagt sie: „Sogar mit den Polizisten am Zaun haben wir uns gut unterhalten“, erzählt die Agrar-Ingenieurin. Ein rundum gelungener Abend in der Blockade? Man kann das bezweifeln.

Zweifellos keine erholsame Nachtruhe oder gar „Wellness“. Die ganze Nacht störte Hubschrauberlärm den Schönheitsschlaf in der Schönheitsfarm. Der beißende Geruch brennender Heuballen drang durch die Fenster der gedrungenen Fachwerkhäuser. Beim Frühstück schwangen die Pendelsteine nicht in den Händen der Kundinnen, sondern in der Vitrine - von den Vibrationen der Rotoren.

Castortage, das bedeutet Ausnahmezustand im Wendland. Der unbedarfte Automobilist erlebt an einem halben Tag mehr Verkehrskontrollen als in 30 Jahren Führerschein. Das Navi führt zu Kreuzungen, an denen Heuballen wie Barrikaden brennen. Am Kreisverkehr von Streetz stehen frierende Männer vor ihren verkeilten Traktoren. Sie lassen Pkw im Slalom durch – es sei denn, sie sind von der Polizei. „Die müssen umdrehen, und die machen das auch“, sagt Bauer Heiner Michaelsen verschmitzt. „Die Traktoren wollen ja partout nicht mehr anspringen! - So sind die Nachschubwege versperrt.“

Landwirte reden wie Strategen. Mütter freuen sich, wenn Demonstranten „Kräfte binden“. Familienväter fachsimpeln über Polizei-Hubschrauber: („In den ,Puma' gehen 24 rein, wir wurden auch schon mal abgeholt“), und gesetzte Damen am Verladekran „wollen jetzt doch mal wissen, wie sich das Pfefferspray anfühlt“.

„Früher“, sagt Tina Hauptmann, „als Kind, war das schlimm für mich. Da durfte ich tagelang nicht draußen spielen, als das Ding hier durchkam.“ Das „Ding“, genauer die elf Castoren, standen jetzt wieder vor der Haustür von Tina Hauptmann, 50 Meter vom Verladekran in Dannenberg. Hier ist die Schiene zu Ende, dann geht’s die 20 letzten Kilometer per Tieflader nach Gorleben.

Die Leute an der Strecke, in Langendorf zum Beispiel, dürfen dann auf Anordnung nicht mal mehr ihre Häuser verlassen. „Weil die Polizei Angst hat, dass doch mal einer einen Trecker auf die Straße schiebt“, sagt Gerd Hader von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. Auch angesägte Bäume hat es schon gegeben, die dann auf die Strecke fielen.

Oder gibt es noch andere Gründe für die Ausgangssperre? „Wer eine Stunde in der Nähe der Castoren verbringt, kriegt die Gesamtstrahlendosis eines Jahres ab“, sagt Mathias Edler von Greenpeace. Vielleicht waren die Hauptmanns doch nicht so hysterisch, als sie ihre kleine Tina im Haus ließen, 20 ist sie jetzt, Berufsschullehrerin will sie werden, doch „zum Castor“ ist sie wieder gekommen. „Gottseidank ist sie nicht im Kessel“, sagt ihr Vater.

Dort im „Polizeigewahrsam“ an der Strecke hatten 1500 Leute die Nacht verbracht. Bei Bodenfrost, nur mit ein paar Decken ging das Abenteuer Castor für Uwe, Heike und Bernd aus Kassel zu Ende: „Um zwei in der Nacht sind wir weggetragen worden“, sagt Heike, Strategisch günstig hatten sie sich in eine Senke gelegt. Die Polizisten mussten sie wegtragen – jeden einzelnen mehrere Hundert Meter weit. Auch ziviler Ungehorsam ist eine Disziplin, die man lernen und verfeinern kann.

„Für uns ist das die 5. Jahreszeit“, sagen sie in Dannenberg. Die Leute freuen sich, dass sie mal im Mittelpunkt des nationalen Interesses stehen. Sie freuen sich nicht, dass „hier seit Jahrzehnten die Bürgerrechte mit Füßen getreten werden“, wie Bernd Kaufmann sagt. Und sie freuen sich nicht, wenn alle wieder weg sind, die Demonstranten, die Polizisten und die Reporter. Nur die Castoren, 102 an der Zahl, voller Atommüll, die bleiben da. In einer Halle, ein paar Meter weg von der Straße, wo Anna so eine wunderbare Nacht verbracht hat.

Matthias Maus

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