Die Revolution macht stolz - nicht satt
Madame Ammar wird richtig verlegen. Als hätte sie gerade ein etwas zu schmeichelhaftes Kompliment gehört. „Merci”, sagt sie und senkt den Blick: „Das macht mich sehr stolz.” Dabei war es nur ein höflicher Glückwunsch für sie und ihr Volk, für die ungeheure Leistung, die Jamila Ammar und tausende andere Tunesier vollbracht haben.
Hier in Tunis, gleich neben dem Schaufenster der Buchhändlerin auf der Avenue Bourgiba ist sie losgegangen, die Revolution, mit der die Tunesier erst ihren Diktator davonjagten, und mit der sie den Stein ins Rollen brachten, von dem noch gar nicht klar ist, was er am Ende bewirkt – eine Kettenreaktion hat er ausgelöst, sicher, einen Erdrutsch. Gibt es ein neues Arabien, eine neue Welt?
Ohne Jamila Ammar, die kleine Buchhändlerin von Tunis, würden Zine el-Abidine Ben Ali und sein räuberischer Clan das Land noch immer aussaugen. Ohne Rania, die 20-jährige Sprachstudentin, wäre Hosni Mubarak in Ägypten wahrscheinlich noch immer im Amt. Ohne den Mut von Abdelkader wüsste kaum jemand, wo Bahrain eigentlich liegt. Ohne die Demonstranten vor dem Innenministerium würde Libyens Diktator Muammar Gaddafi nicht blutig um seine 42 Jahre dauernde Macht kämpfen.
„Ja, wir haben den anderen Arabern ein gutes Beispiel gegeben”, sagt Madame Ammar. „Aber wir haben noch eine Menge Arbeit.” Viele Menschen stehen vor dem Schaufenster ihres Buchladens „Die Revolution der Tapferen”, „Frei denken im Islam”, „Europa und seine Despoten”, das sind die bestaunten Titel, die noch vor fünf Wochen hier nicht hätten stehen dürfen. Sie gehen weg wie warme Semmeln: Von manchen gibt es nur Muster.
„Mein Bestseller ist ,Die Herrscherin von Karthago'”, sagt Jamila Ammar. Eine Chronik der Schande ist das über Leila Trabelsi, die Präsidentengattin, die kurz vor ihrer Flucht am 14. Januar anderthalb Tonnen Gold aus der Zentralbank abholen ließ. Geld, das jetzt an allen Ecken fehlt, und nur ein Bruchteil von dem, was „la famille” dem Elf-Millionen-Volk in 23 Jahren gestohlen hat. In der Päsidentenvilla im malerischen Nobelvorort Sidi Bou Said fand sich hinter der Wand ein Tresor mit umgerechnet 20 Millionen Euro – in bar.
„Es gibt auch noch viel Arbeit für die Tunesier”, sagt Jamila, und bald wird klar, warum ihr Vorschusslorbeeren etwas peinlich sind: Sie weiß, dass in einem Vorort ein polnischer Salesianer-Priester ermordet wurde. Sie weiß, dass die Islamisten die Tat verurteilt haben. Sie weiß, dass die Probleme noch kommen. „Freiheit hat Grenzen”, sagt sie: „Das müssen die Leute noch lernen. Freiheit der Andersdenken, Respekt vor dem Leben der anderen, Toleranz”, zählt Jamila auf. „Das Bewusstsein muss sich ändern.”
Es ist ein schönes Bild vor dem Theater, keine hundert Meter weiter, wie sich immer neue Grüppchen zu immer neuen Diskussionsrunden versammeln. Es geht hoch her, große Gesten, laute Stimmen. Nur so viel versteht der Europäer: Erst redet einer, dann der andere. Man lässt sich ausreden. Der Traum des Anne-Will-Zuschauers.
"Danke Facebook"
„Endlich können wir reden”, sagt Rania, die Sprachstudentin, in perfektem Englisch, „so lange mussten wir schweigen”. Sie will „Respekt für unsere Revolution”. Es ist nur eine kleine Demo heute. Der Groll richtet sich gegen den neuen französischen Botschafter. Der alte war deutlich zu eng mit dem Räubersystem Ben-Alis verbandelt. Und der neue ist ein Karriere-Diplomat, er kommt direkt aus dem Irak und hatte einen arroganten Auftritt gleich am ersten Tag: Das kam nicht gut an. „Wir sind doch kein Krisengebiet”, sagt Rania mit der Empörung von verletztem Stolz.
Mit schätzungsweise 200 Toten ist Tunesien vergleichsweise glimpflich davongekommen, und nichts kränkt die Leute mehr als der Vergleich mit Pulverfässern wie Afghanistan oder Libyen.
Das Leben in der Stadt läuft normal, ein Hauch von arabischem Frühling weht, im Café Tunis sitzen die jungen Leute in der Wintersonne und trinken ihren Mokka wie in einem Pariser Bistro. Die Zeitungen sind endlich mal interessant, der Schützenpanzer vor dem Innenministerium sieht aus wie eingemottet. „Enfin libres”, „Endlich frei” steht auf dem Bauzaun einer Großbank, „Die tunesische Frau ist frei und wird es bleiben!” und: „Danke Facebook”.
Hier in Tunis ist nicht nur das Vorurteil von der Demokratie-Unfähigkeit der arabischen Welt gefallen. Das Selbstbewusstsein einer jungen, gut vernetzten Generation sprengt nebenbei noch Geschlechterrollen. Fast zu schön, um wahr zu sein.
Abdelkader kann sich davon nichts kaufen. In der Medina hinter der Port de France versucht der 30-Jährige, Modeschmuck zu verkaufen. Natürlich ist auch er für die Revolution: „Aber es gibt keine Sicherheit, und wo sind die Touristen?”
Die tieferen Ursachen des Aufstands sind noch immer da. 500 000 Arbeitslose gibt es nach einer neuen Statistik, davon haben 160000 einen höheren Schulabschluss. Die Revolution macht nicht satt. Und bringt sie neue Jobs?
Mehdi Houas glaubt daran: „Kommen Sie in das neue Tunesien”, sagt der neue Tourismusminister: „Unterstützen Sie die Freiheit.” Große Worte, aber der 51-Jährige geht mit gutem Beispiel voran. Geboren in Marseille, wurde er in Frankreich zum IT-Unternehmer, in seiner Firma arbeiten 450 Menschen. Als die neue Übergangsregierung Leute suchte, da tauschte der Familienvater die Pariser Wohnung am Eiffelturm mit dem Büro des Ministers: „Ich gehe aber wieder, wenn eine neue Regierung gewählt ist.” Einen Wahltermin gibt es noch nicht. Aber: „Ich muss mich wieder um meine Firma kümmern.”
"Es gibt keinen Grund mehr zu gehen"
Was sagt er denen, die auch nach Europa wollen, trotz der neuen Freiheit? „Bleibt! Das Land braucht Euch”, sagt Houas. „Vor der Revolution habe ich die jungen Leute verstanden, die nach Lampedusa wollten. Aber jetzt gibt es keinen Grund mehr, zu gehen.”
Das klingt optimistisch, nur Jobs und Perspektiven kann auch Houas nicht versprechen. Und auch nicht, wie sich das entwickeln wird mit der Revolution. Welche alten Verbrechen noch auftauchen, was mit den Komplizen passiert, mit den Schergen und den Folterknechten.
Vor Houas’ Ministerium steht Mohamad, er war Rezeptionist in einem Fünf-Sterne-Hotel. Den Job ist er erstmal los: Der Minister hat Hilfe versprochen, und Mohamad ist langmütig – erstmal. Soll man jetzt erst aufräumen, säubern, oder nach vorne blicken? „Man muss Geduld haben”, sagt er. „Wir wollen eine bessere Zukunft, jeder sollte eine Chance haben.”
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