Die neue Streiklust der Deutschen: Eine Analyse

Am Mittwoch sind die Kitas dran - die nächste Runde. Geht das jetzt immer so weiter? Zwei Forscher zu neuen Wirtschaftskämpfen.
von  Martina Scheffler
Warnstreiks am Flughafen in München. Wann genau das war? Man verliert leicht den Überblick. Das Bild ist vom 17. Februar 2023.
Warnstreiks am Flughafen in München. Wann genau das war? Man verliert leicht den Überblick. Das Bild ist vom 17. Februar 2023. © Foto: imago/Sven Simon

Die Tram fährt nicht mehr. Warnstreik im ÖPNV. Die Briefe kommen noch später als sonst. Warnstreik bei der Post. Der Müll bleibt liegen, die Flugzeuge am Boden, die Kita dicht, Warnstreik im öffentlichen Dienst. Bei Brauereien wird nicht gebraut, beim MDR nicht gesendet. Meldungen eines bestreikten Jahres? Nein, aus den letzten zwei Wochen. Wer sich noch an die Zeit um die Jahrtausendwende erinnert, wird sich fragen, was los ist in Deutschland.

Wurde schon immer so viel gestreikt?

Wie war es früher? "Die 90er Jahre waren ausgesprochen streikarm", sagt Ingrid Artus, Professorin am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, der AZ. "Insgesamt nimmt die Streiktätigkeit zu, nicht dramatisch, aber sie liegt höher als in den 90ern und bis etwa 2005." Anders als von der Wissenschaft in den 90ern angenommen, seien Streiks nicht ausgestorben, sondern haben ein "Revival" erlebt.

Etwas anders sieht es Stefan Schmalz, Heisenberg-Forschungsgruppenleiter an der Universität Erfurt und derzeit Visiting Scholar an der University of California in Berkeley: Zwar kommen gerade viele Streiks zusammen. "Aber ganz nüchtern betrachtet haben sich in den vergangenen Jahren die Anzahl der Streikbeteiligten und Streiktage - von einigen Ausreißern wie dem Streikjahr 2015 abgesehen - nicht signifikant erhöht", sagt er der AZ.

Immer mehr Tarifkonflikte

Dafür habe sich aber die Zahl der "Häuserkämpfe" in einzelnen Unternehmen deutlich gesteigert: "Gab es nach Schätzung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts im Jahr 2006 noch 106 Tarifkonflikte, waren es 2021 rund 221; im Jahr 2022 waren es nach ersten Berechnungen unseres Projekts ,Streikmonitor' wohl erneut über 200."

Das Statistische Bundesamt erfasst als besonders streikarme Jahre im Zeitraum seit 1995 die Jahre 1998, 2000, 2001, 2005 und 2010, mit jeweils nicht einmal einem ausgefallenen Arbeitstag. 2015 dagegen wurde ein Spitzenwert von 28,2 Tagen erreicht.

Wann wird gestreikt? "Was wichtig ist für eine Streikfähigkeit, ist die Situation am Arbeitsmarkt", sagt Ingrid Artus. "Bis etwa 2010 hatten wir noch eine massiv hohe Arbeitslosigkeit. Das erschwert eine Arbeitskampffähigkeit. Seitdem hat sich der Arbeitsmarkt positiv entwickelt, und wenn Beschäftigte das Gefühl haben, sie können etwas verlangen und man braucht sie, sind sie auch fähiger und eher willens, kollektiv etwas einzufordern."

Neoliberale Umstrukturierungen verletzen Beschäftigteninteressen

Was beim Rückblick auffalle: "Sie haben Ende der 90er, Anfang der 2000er eine ganze Reihe an neoliberalen Umstrukturierungen, die Beschäftigteninteressen massiv verletzt haben." Eine sinkende Tarifbindung macht auch Schmalz als Grund für Streiks aus. "Nach Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung arbeiten heute nur noch 45 Prozent aller westdeutschen und 34 Prozent aller ostdeutschen Beschäftigen in Betrieben mit Branchentarifvertrag. Das ist deutlich weniger als noch Anfang des Jahrtausends."

Große Streik-Übersicht

In welchen Bereichen wird gestreikt? "Verdi mobilisiert stärker als früher in Bereichen, die früher nicht so stark zum Arbeitskampf aufgerufen wurden", sagt Soziologieprofessorin Artus. "Ich denke da vor allem an die Sorge-Berufe, die Krankenhäuser, an viele Frauenberufe. Frauen sind generell stärker als früher an der Erwerbsarbeit beteiligt, und Frauenarbeit ist immer noch schlechter bezahlt als die von Männern. Das heißt, sie haben auch mehr Grund zu streiken."

Was dazukomme: "Verdi sieht in den Frauen auch ein Mitgliederpotenzial, das sie erschließen wollen." Gestreikt werde außerdem in Bereichen, "wo sie gut organisiert sind. Das sind historisch eher die Industriebereiche. Die IG Metall ist sehr durchsetzungsfähig und kann gut streiken. Seit etwa 2010 sind die Dienstleistungsbereiche zunehmend streikbeteiligt."

Erzieher streiken am häufigsten

"Das Gros der Streiktage geht nach wie vor auf die großen Tarifrunden in der Metall- und Elektroindustrie und den Öffentlichen Dienst zurück", bestätigt Schmalz. "Die IG Metall hat einige große Konflikte ausgetragen, etwa im Jahr 2018, als in der Tarifrunde ,Metall- und Elektroindustrie' rund 1,5 Millionen. Beschäftigte gestreikt haben. Es ging hier auch um das Thema Arbeitszeitverkürzung und Freistellungszeit."

Auch der Erfurter sieht neue Streikakteure: "Die Erzieherinnen galten lange Zeit nicht als sonderlich streikaffin, sind nun aber gewerkschaftliche ,Aktivposten'." Sie wollen materielle Anerkennung ihrer Facharbeit und eine Entlastung im Arbeitsalltag.

"Streikfähigkeit hat oft mit ökonomisch guten Rahmenbedingungen zu tun"

Wo wird gestreikt? "Die IG Metall ist im Süden sehr stark, Bayern, Baden-Württemberg, auch in Nordrhein-Westfalen", sagt Artus. "Streikfähigkeit hat oft mit ökonomisch guten Rahmenbedingungen zu tun."

Die sogenannten Häuserkämpfe dagegen finden häufiger in Ostdeutschland statt, hat Schmalz herausgefunden. "Das hat natürlich mit der niedrigen Tarifbindung im Osten zu tun." Jüngere aber seien eher bereit, Arbeitskämpfe zu führen.

Wer unterstützt die Streiks? "Ich habe den Eindruck, die Medien sind bei Streiks viel kritischer als die Bevölkerung", sagt Artus. "Die umstrittenen Streiks sind zum Beispiel immer die Bahnstreiks. Das behindert viele Pendler und ist im Alltag ein großes Problem."

Mehrheit der Bevölkerung ist für Streiks

Trotzdem ist die Mehrheit der Bevölkerung nach Artus' Einschätzung nicht gegen diese Streiks. "Die Mehrheit ist ja selbst lohnabhängig, auch wenn die Menschen nicht immer Mitglied in einer Gewerkschaft sind. Es gibt ein großes Grundverständnis bei vielen Leuten."

Rückhalt in der Bevölkerung sei da, sagt auch Schmalz. Gleichzeitig aber sinken eben die Mitgliederzahlen. "Bei der Zustimmung zu Streiks kommt es immer auf den Einzelfall und den Zeitpunkt an: Die Streiks der Kitas-Beschäftigten stoßen meist auf Verständnis bei den Eltern, da es um die Qualität der Betreuung ihrer Kinder geht." Die Gewerkschaften versuchen zudem durch Notfallprogramme in der Regel allzu große Härten abzufedern, sagt Artus.

Wie wird sich die Streikhäufigkeit entwickeln? Der Ukraine-Krieg überlagere viel, so Artus. "Das Geld, was im Moment für Rüstung ausgegeben wird - da ist es schwer, das dann im Öffentlichen Dienst an die Beschäftigten zu geben. Möglicherweise hat das zur Folge, dass die Auseinandersetzungen härter werden müssen."

Für Schmalz ist die Inflation ein "Gamechanger": "Ich denke, dass die steigenden Lebenshaltungskosten Streiks befördern werden. Für die Beschäftigten geht es um viel, im vergangenen Jahr sind die Reallöhne um rund vier Prozent gesunken! Wenn also nun die Entlohnung und die Laufzeiten der Tarifverträge verhandelt werden, ist das eine echte Kraftprobe."

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