Die Kleinen werden die Größten sein
Berlin - Renate Künast war stets die Unscheinbarste im Führungsquartett der Öko-Partei. Jetzt will sie Klaus Wowereit als Stadtchef von Berlin ablösen: „Es geht um die Frage, wer wird stärkste Partei“
Irgendwie war alles normal, auch gestern wieder. Stabil, keine Veränderung – 17 Prozent. 17 Prozent der Deutschen würden auch am nächsten Sonntag Grün wählen, wenn sie an die Urnen könnten. Wie bitte – normal? Noch vor zwei Jahren wäre jeder ein Phantast geheißen worden, der das vorhergesagt hätte. Und jetzt? „Es geht um die Frage: Wer wird stärkste Partei,“ sagt Renate Künast: „Und wir spielen dabei mit.“
Zugegeben: Die Fraktionsvorsitzende im Bundestag spricht nicht vom Bund, sie meint „nur“ Berlin. Aber eine Traumtänzerin war die raspelhaarige Kodderschnauze noch nie. Und auch diesmal ist ihre Aussage nicht weltfremd. Nach der jüngsten Forsa-Umfrage liegen Grüne und SPD in Berlin gleichauf. Und wo Erfolge keimen, da sprießen Hoffnungen: die 54-jährige Juristin und Sozialarbeiterin könnte erste grüne Regierungschefin eines Bundeslandes werden. Die Grünen erleben einen atemberaubenden Höhenflug.
56 Prozent der befragten Berliner könnten sich das kleingewachsene Energiebündel als „Regierende“ vorstellen: Ein Schock muss das sein für den SPD-Amtsinhaber. Klaus Wowereit, der bisher Übereifer im Amt durch Nonchalance zu ersetzen weiß, muss sich warm anziehen, wenn Künast antritt. Und sie sagt nicht Nein. „Die Frage der Kandidatur werden wir Ende des Jahres beantworten.“
Tatsächlich ist noch etwas Zeit bis zur Wahl des Abgeordnetenhauses im Herbst 2011. Die Umfrage ist eine Momentaufnahme, und grüne Strategen wissen, dass die Studien meist besser sind als die Wahlergebnisse.
Doch Künasts Zurückhaltung ist keine Koketterie. Im Falle einer Niederlage wäre der harte Stuhl einer Oppositionsführerin im Abgeordnetenhaus mit Sicherheit nicht so attraktiv wie ein Ministersessel im Bund. „Wir können doch so eine kompetente Politikerin nicht in Berlin verheizen für ein paar Prozentpunkte mehr“, sagt ihr Berliner Intimus Volker Ratzmann: „Das geht nur, wenn die Berliner weiter sagen, Künast könnte es schaffen.“
Wenn nicht im Rathaus, dann in der nächsten Bundesregierung in Berlin. Zuzutrauen ist der zierlichen Frau im typischen Hosenanzug manches.
Im grünen Führungsquartett ist sie optisch die unscheinbarste, und dennoch sticht die gebürtige Recklinghausenerin heraus. Co-Fraktionschef Jürgen Trittin ist staatsmännischer und rhetorisch besser, Parteichefin Claudia Roth ist bunter und gefühliger, Cem Özdemir multikultureller und verbindlicher, aber an Beharrlichkeit und Durchsetzungskraft lässt sich Künast nicht übertreffen. Derzeit beweist sie das in so ziemlich jeder Talkshow, aber Künast kann mehr als schnell reden.
Als Agrarministerin – von 2001 bis 2005 – hat die bekennende „Stadtpflanze“ gezeigt, dass man das Ministerium nicht als verlängerten Arm der Bauernlobby begreifen muss. Sie ließ sich auf Bauerntagen ungerührt auspfeifen, streichelte trotzdem Ferkel und trank Schnaps auf der Grünen Woche. Sie definierte ihr Haus als Verbraucherschutzministerium neu und führte das achteckige Bio-Siegel ein.
Damals noch eher unbeachtet, ist das Etikett heute ein Symbol dafür, was die Grünen richtig gemacht haben. Die Bio-Welle ist längst in die bürgerlichen Milieus geschwappt, und keine CSU-Sonntagsrede kommt mehr ohne den Begriff „Nachhaltigkeit“ aus.
Grüne Markenzeichen sind Mainstream, nur die anderen Parteien tun sich mehr oder weniger schwer, das zu begreifen. „Wir haben die SPD zur Anti-Atompartei gemacht, und die CDU wird es eines Tages auch sein“, sagt Künast.
Zwar versuchen Horst Seehofer in München oder Stefan Mappus in Stuttgart, eine Atom-Renaissance auszurufen, doch die Umfragen sehen auch da eine grüne Welle (siehe auch Seite 2). 48 Prozent sind gegen jede Form von Laufzeitverlängerung, 29 Prozent könnten sich mit höchstens zehn Jahren anfreunden, eine Mehrheit für die unbegrenzte Atom-Laufzeit, wie sie Seehofer will, ist wohl nicht mal mehr in der CSU mehrheitsfähig. Die völlig ungelöste Entsorgungsfrage werde die CDU und die Länder „einholen“. Das nächste schwarz-gelbe Desaster, wenn im Herbst die Energiepolitik neu geregelt werden soll, sei programmiert, sagt Künast.
Es sind aber nicht mehr nur die typisch grünen Themen, bei denen ihre Partei Punkte sammelt. Der Landesverband Baden-Württemberg hat gerade erhoben, wo die Wähler die Kompetenzen sehen, und – Überraschung – es ist auch die Wirtschaft.
Vor fünf Jahren galten Grüne noch als Spinner, wenn sie auf das Potenzial erneuerbarer und nachhaltiger Techniken hinwiesen. Heute sprechen die Zahlen der Hersteller von Solar- oder Windkraftanlagen eine ganz andere Sprache. Die Deutschen sind hier Marktführer.
Grünen-Ober-Emeritus Joschka Fischer berät mittlerweile BMW, weil er Super-USA-Kontakte hat. Und weil die Manager hoffen, er könne dem Energie-Sparprogramm „Efficient Dynamics“ mehr grüne Glaubwürdigkeit verschaffen. Grünen-Chef Cem Özdemir setzt sich in Neckarsulm in einen – rein elektrisch gepowerten – Rennwagen von Audi und muss keinen Rausschmiss fürchten: „Wir werden die Zügel noch anziehen“, sagt er den Managern lächelnd und wird trotzdem nicht vom Hof gejagt. In Baden-Württemberg ist nächsten März Landtagswahl, und auch da liegen die Grünen bei 20 Prozent, fünf hinter der SPD, erstmals ist Rot-Grün und Schwarz-Grün im Ländle rechnerisch möglich.
Das grüne Selbstbewusstsein ist enorm, und sie zeigen es her: „Im Vergleich zu Rot-Grün unter Ex-Kanzler Gerhard Schröder haben sich die Vorzeichen geändert“, sagt Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin: „Die SPD für harte Industriepolitik, Grüne für Lehrerthemen – das funktioniert nicht mehr“. Die Grünen seien mit den Sozialdemokraten jetzt auf Augenhöhe, dazu habe Schwarz-Grün in der Hamburger Landesregierung eine Menge beigetragen.
Bleibt den anderen einstweilen nur die sauertöpfische Rolle des Mahner: „Die Grünen können vor Kraft kaum gehen“, sagt Klaus Wowereit, der demnächst womöglich Ex-Regierende von Berlin, und hebt den Zeigefinger: „Hochmut kommt vor dem Fall“.