Die bizarre Jagd auf Anis Amri: Das Staatsversagen

Der Verdächtige war den Behörden bekannt, sie haben sogar gegen ihn ermittelt. Er sollte abgeschoben werden – und wurde entlassen.
Von Natalie Kettinger |
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Die Wunde im Herzen der Hauptstadt: Am Anschlagsort vor der Gedächtniskirche in Berlin haben Trauernde Blumen angelegt und Kerzen aufgestellt. Anis Mari (kleines Bild) soll den Anschlag verübt haben.
dpa Die Wunde im Herzen der Hauptstadt: Am Anschlagsort vor der Gedächtniskirche in Berlin haben Trauernde Blumen angelegt und Kerzen aufgestellt. Anis Mari (kleines Bild) soll den Anschlag verübt haben.

Er ist 24 Jahre alt, stammt aus Tunesien und war den Behörden als islamistischer Gefährder bekannt. Der Berliner Generalstaatsanwalt ermittelte gegen ihn wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat. Trotzdem konnte er untertauchen – und zwölf Menschen töten: Seit dem frühen Mittwochabend fahndet die Polizei europaweit nach Anis Amri, den sie für dringend verdächtig hält, den Anschlag vor der Gedächtniskirche begangen zu haben. "Vorsicht: Er könnte gewalttätig und bewaffnet sein!," heißt es im Fahndungsaufruf. Und dass 100.000 Euro Belohnung für Hinweise ausgesetzt sind.

Gleichzeitig kommen immer neue Details ans Licht, die den Fall zum Politikum werden lassen: Wie konnte dieser Mann von der Bildfläche verschwinden? Warum wurde er nach einem Tag aus der Abschiebehaft entlassen? Warum twitterte Pegida-Gründer Lutz Bachmann schon zwei Stunden nach der Attacke unter Berufung auf die Berliner Polizeiführung, der Täter sei ein "tunesischer Moslem"? Warum wurde zunächst ein anderer, ein Flüchtling aus Pakistan, festgenommen?

Amris "Duldung" lag im Lkw

Wie jetzt öffentlich wurde, hatten die Ermittler im Fußraum des Todes-Lkw eine Duldung entdeckt, also ein Ausweispapier für abgelehnte Asylbewerber, die zunächst trotzdem in Deutschland bleiben dürfen. Das Dokument war auf Anis Amri ausgestellt. Den Spezialisten des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden ist dieser Mann bestens bekannt. Sie führten ihn seit Januar 2016 als islamistischen Gefährder. Sie wussten, dass er zwischen Berlin und Emmerich in Nordrhein-Westfalen pendelte, wo eine Asylbewerberunterkunft sein letzter Wohnsitz war. Und sie wussten, dass er sich in salafistischen Kreisen bewegte.

Anis Amri soll zu den Anhängern des Top-Islamisten Abu Walaa gehören. Laut NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" soll er zeitweise bei dem Dortmunder Boban S. gewohnt haben, der zusammen mit Abu Walaa im November festgenommen worden ist.

Den beiden wird unter anderem vorgeworfen, Kämpfer für den Islamischen Staat (IS) rekrutiert zu haben, der sich am Dienstagabend zu dem Anschlag in Berlin bekannt hat. Außerdem soll Amri aufgefallen sein, weil er sich bei einem V-Mann erkundigte, wo man Waffen kaufen könne.

Eigentlich hätte Anis Amri gar nicht mehr in Deutschland sein dürfen

Fest steht: Seit Monaten wurde die Telekommunikation des Tunesiers überwacht. Trotzdem verschwand Anis Amri im Dezember vom Radar. Möglicherweise, weil er in Berlin als Ahmad Z. oder Mohamed H. aus Ägypten erfasst war, wie „Spiegel online“ berichtet, und teils auch angab, aus dem Libanon zu stammen.

Eigentlich hätte Anis Amri zum Zeitpunkt seines Untertauchens gar nicht mehr in Deutschland sein dürfen. Er war im Juli 2015 über Freiburg in die Bundesrepublik eingereist, sein Asylantrag im Juni abgelehnt worden – nach Rücksprache mit den Sicherheitsbehörden.

Am 30. Juli wurde er mit Beschluss des Amtsgerichts Ravensburg in Abschiebehaft genommen, allerdings nur für einen Tag. Der Mann habe nicht rückgeführt werden können, weil er keine gültigen Ausweispapiere bei sich hatte, sagte NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) gestern. Tunesien habe bestritten, dass es sich um einen Landsmann handelt. Ironie des Schicksals: Die Ersatz-Ausweisdokumente aus Tunis seien "zufälligerweise heute überstellt" worden, so Jäger.

Den gesamten Mittwoch hörte man aus Sicherheitskreisen übrigens von "unmittelbar bevorstehenden Maßnahmen" der Behörden in Nordrhein-Westfalen. Bis zum Erscheinen dieses Artikels hatten die Razzien jedoch nicht stattgefunden – die Durchsuchungsbeschlüsse waren ungültig. Offenbar aufgrund von Rechtschreibfehlern.

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