Die Berliner Rede: Von Horst Köhler zu Horst Kant

Es ist mal wieder Ruck-Zeit in Deutschland. Gestern hielt Bundespräsident Horst Köhler seine mit Spannung erwartete vierte Berliner Rede – die letzte vor der Präsidentenwahl im Mai. Thema war natürlich die Wirtschaftskrise. Die AZ hat die Rede analysiert.
von  Abendzeitung

Es ist mal wieder Ruck-Zeit in Deutschland. Gestern hielt Bundespräsident Horst Köhler seine mit Spannung erwartete vierte Berliner Rede – die letzte vor der Präsidentenwahl im Mai. Thema war natürlich die Wirtschaftskrise. Die AZ hat die Rede analysiert.

Roman Herzog hat 1997 mit den so genannten "Berliner Reden" der Bundespräsidenten angefangen, Johannes Rau ist bis jetzt unangefochtener Spitzenreiter in dieser Disziplin (fünf Reden!). Die Reden des Horst Köhler sind bisher wenig im Gedächtnis geblieben - vielleicht könnte sich das jetzt ändern. Eine AZ-Analyse.

Der Schauplatz

Köhler setzt auf Symbolik: Er redet in der Berliner St.-Elisabeth-Kirche. Das von Karl Friedrich Schinkel im klassizistischen Stil erbaute Gotteshaus brannte 1945 nach einem Bombenangriff aus, wird seit einigen Jahren saniert. Eine Kirche, Ruine dazu – das passt zur Fastenzeit, zum Maßhalten, zum Buße-Tun in Zeiten der Finanzkrise. Allerdings hat die Kirchen-Veranstaltung auch etwas leicht Begräbnishaftes. Lässt sich so Optimismus vermitteln?

Köhlers Schelte

Banker-Bashing gehört in diesen Zeiten schon fast zum guten Ton, Köhler war früher ein Banker – also schimpft sich der Bundespräsident zu Beginn gleich selbst. Es ist eine ungewöhnliche Eröffnung, und sie soll allen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen: "Ich will ihnen eine Geschichte meines Scheiterns erzählen", sagt Köhler – und spricht von seiner Zeit als IWF-Chef, als er nichts gegen die heraufziehende Finanzkrise unternahm.

Heute ist Köhler aber Bundespräsident – und kann die Banker selbst geißeln: "Auch angesehene deutsche Bankeninstitute haben beim Umgang mit Risiko zunehmend Durchblick und Weitblick verloren. Bis heute warten wir auf eine angemessene Selbstkritik der Verantwortlichen." Und auch die Politik bekommt die Leviten gelesen: "Die Krise ist keine Kulisse für Schaukämpfe. Auch im Vorfeld einer Bundestagswahl gibt es keine Beurlaubung von der Regierungsverantwortung." Dafür gibt es sogar Zwischenapplaus. Bemerkenswert, bedenkt man, wie schläfrig die Zuhörer bei Köhlers früheren Berliner Reden auf ihren Stühlen hingen.

Köhlers Lob

Auch wenn sie sich momentan über das Klein-Klein von Abwrackprämie und Steuersenkungen die Köpfe heiß reden – die Koalition macht nach Köhlers Ansicht einen guten Job: "Die Regierung hat bisher kurzatmigen Aktionismus vermieden. Die eingeschlagene Richtung stimmt." Die Krise habe gezeigt, dass der Markt nicht alles richten könne. "Es braucht einen starken Staat, der dem Markt Regeln setzt und für ihre Durchsetzung sorgt." Dafür erntet Köhler Zustimmung bei den Zuhörern von Union und SPD. FDP-Chef Guido Westerwelle klatscht zwar eifrig, überschäumend fällt sein Lob aber nicht aus: "Insgesamt war es eine kluge Rede", sagt er.

Köhlers Vision

Zum Schluss wird aus Horst Köhler "Horst Kant": „Wir wollen andere so behandeln, wie wir behandelt werden wollen“, sagt er, und fordert eine "Entwicklungspolitik für den ganzen Planeten". Man hätte besser einen Zug quer durch Afrika gebaut als "in eine New Yorker Investmentbank zu investieren". Wieder gibt es Applaus. "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein", predigt Köhler und wirbt dafür, Erfüllung nicht im Materiellen, sondern im Miteinander zu suchen.

Köhlers Auftreten

Rhetorisch brilliant wird Köhler wohl nie. Aber diesmal wartet man vergeblich darauf, dass Köhler in den Modus "Präsidial-Roboter" verfällt, auch sein starrer Teleprompter-Blick fehlt heute. Zum Schluss gibt’s sogar stehende Ovationen. Vielleicht war das ja die erste Köhler-Rede, die wirklich im Gedächtnis bleibt.

Annette Zoch

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