Detonationen und Gefechtslärm nahe Gaza – AZ-Reporterin Heidi Geyer berichtet aus Israel: "Die Straßen sind nahezu leer"

Für die meisten Menschen dürfte es kaum vorstellbar sein, wie die aktuelle Realität in Israel aussieht. Politik-Redakteurin Heidi Geyer hat gerade Ministerpräsident Markus Söder auf einer Dienstreise begleitet und berichtet in der AZ über ihre Eindrücke aus dem vom Terror erschütterten Land.
von  Heidi Geyer
Politik-Redakteurin Heidi Geyer in Israel.
Politik-Redakteurin Heidi Geyer in Israel. © Heidi Geyer

Ich war in der Dizengoff-Straße, einem großen Boulevard in Tel Aviv. Es war der Abend vor dem Sabbat, sehr viele junge, aber auch alte Leute waren unterwegs. Ich saß in einer Bar, trank ein Bier, aß eine Pizza. Nach der langen Corona-Zeit endlich wieder Urlaub, Getümmel, laute Musik – wie sehr habe ich diesen Moment genossen. Zeitgleich schießt ein 28-jähriger Palästinenser 300 Meter von mir entfernt in eine Bar, tötet drei Menschen und verletzt sechs Personen. Ich erfahre erst davon, als ich wieder im Hotel bin.

Es ist nun eineinhalb Jahre her, dass ich im Heiligen Land im Urlaub war. Schon damals war die Situation schwierig. Doch am Tag nach dem Attentat geht das Leben dort weiter. Ich kann es kaum glauben, mit welcher Unbeschwertheit die Israelis damit umgehen. Überhaupt: Die Lebensfreude der Israelis, dieses Leben im Moment. Mir imponiert das und ich muss viel darüber nachdenken, auch als ich längst schon wieder in Deutschland bin.

AZ-Reporterin in Israel: "Ich kehre zurück in mein Urlaubsland, das tief verwundet ist"

Am 7. Oktober bin ich mit meiner Mutter spazieren, als ich auf meinem Handy lese, dass die Hamas Israel angegriffen haben. Ich will nicht ständig auf mein Handy schauen, sage zu meiner Mutter nur: "Es scheint wirklich schlimm zu sein." Noch kann ich nicht erfassen, was da passiert ist. Zuhause habe ich das Gefühl, mich überrollt eine Welle. Ich kann kaum aufhören, Artikel zu lesen und Videos zu schauen. Auch ich war im Süden, wir sind sogar an einer Straße direkt an Gaza vorbeigefahren. Die Hochhäuser von Gaza-Stadt konnte man sehen. Sie hatten damals etwas Düsteres, fast Gespenstisches für mich.

Dass ich so schnell wieder nach Israel kommen würde, damit habe ich nicht gerechnet. Erst recht nicht beruflich, auf Einladung der Staatskanzlei. Ich kehre zurück in mein Urlaubsland, das nun tief verwundet ist. Ich merke es schon am Flughafen, an dem kaum etwas los ist. Freilich ist der komplette Tourismus zusammengebrochen. Wer reist schon in ein Land im Krieg? Überall hängen Plakate der Geiseln.

Schutzwesten und Helme: Sicherheitsbriefing für den Fall eines Raketenangriffs

Abends streife ich mit Kollegen kurz durch die Altstadt von Jerusalem. In meiner Erinnerung sind die engen Gassen proppenvoll, übersät von Touristen und Pilgern, an jeder Ecke Läden und Bars. Nun ist alles geschlossen, die Straßen nahezu leer. Wir bekommen mehrere Sicherheitsbriefings, auch das elegante Dinner muss kurz unterbrochen werden, weil das Hotel uns über den Fall eines Raketenangriffs vorbereiten möchte. Nach dem Essen probieren wir alle Schutzwesten und Helme an – sauschwer sind die Dinger und man braucht tatsächlich eine Einweisung, wie sie richtig angezogen werden. Die Männer erfahren, dass sie keine Hemden mit Knöpfen anziehen sollen. Denn harte Gegenstände können im Fall des Falles trotz Schutzweste zu Verletzungen führen.

Schutzhelm und Weste sind für Heidi Geyers Reise ins Grenzgebiet zu Gaza Pflicht.
Schutzhelm und Weste sind für Heidi Geyers Reise ins Grenzgebiet zu Gaza Pflicht. © Heidi Geyer

Es fühlt sich noch etwas surreal an, schließlich sitzen wir im King David, einem Luxushotel. Wir bekommen ein Schreiben mit aufs Zimmer, das wir am nächsten Tag unterschrieben wieder mitbringen sollen: Sollten wir sterben oder verletzt werden, müssen wir dokumentieren, dass wir nicht die israelischen Streitkräfte dafür verantwortlich machen. Ich gehe auf mein Zimmer, vor der Tür liegt ein Leuchtstreifen. Die LKA-Beamten haben uns gesagt, sie brauchen das zur Kontrolle. Ich überlege, was ich mache, wenn der Luftalarm losgeht, wenn ich unter der Dusche stehe. 90 Sekunden sind zu kurz, um sich anzuziehen, so schnell soll man aber im Schutzraum sein. Im Schrank hängt ein Bademantel.

Detonationen und Gefechtslärm: Gaza ist nur zwei Kilometer entfernt

Geplant war für den zweiten Tag in Israel eigentlich, dass wir erst in ein zerstörtes Kibbuz im Süden fahren und dann zur Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Doch die Pläne ändern sich schnell, nun also doch zuerst Yad Vashem und dann die Fahrt in den Süden. Dort aber in ein anderes Kibbuz als das ursprünglich geplante, denn das sei wieder von der Hamas beschossen worden.

An einer Tankstelle machen wir einen kurzen Stopp, schlüpfen alle in unsere Westen und Helme. Der Süden nahe des Gazastreifens ist eine militärische Schutzzone. Die LKA-Beamten und selbst die Mitarbeiter der deutschen Botschaft sind verblüfft, dass es so große gepanzerte Busse gibt, wie der, in dem wir sitzen. Wir fahren an einer unscheinbaren Kreuzung vorbei, an der ein kleiner Schutzbunker steht. Davor sind Blumen niedergelegt, es ist wohl auch hier jemand gestorben.

Im Kibbuz Nir Oz ist die Zerstörung nicht zu übersehen. Ein gepflegtes Dorf muss es mal gewesen sein. Heute stinkt es nach Rauch, selbst die Sträucher sind verbrannt. Einige Häuser sind Ruinen, man muss aufpassen, dass man nicht über versengtes Blech und Schutt stolpert, sich an zersplitterten Glastüren in die Hand schneidet. Andere Häuser sind auf den ersten Blick noch vollkommen intakt. Da stehen noch die Shampoo-Flaschen im Bad, der Take-Away-Behälter in der Küche. Wäre da nicht der Blutfleck im Schutzraum, man würde denken, da ist nur kurz jemand weg. Und wären da nicht die Detonationen und der Gefechtslärm, den man im Hintergrund hört, mitunter auch spürt. Gaza ist nur knapp zwei Kilometer entfernt.

Die Zerstörung im Kibbuz Nir Oz ist nicht zu übersehen.
Die Zerstörung im Kibbuz Nir Oz ist nicht zu übersehen. © Heidi Geyer

Angehörige von Hamas-Geiseln: Der Schmerz steht ihnen ins Gesicht geschrieben

Mich lenkt die Arbeit ab. In so einer Situation ist es für mich heilsam, dass ich weiß, die Redaktion in München braucht heute noch einen Text von mir. Es übertüncht das überwältigende Grauen. Um 6.30 Uhr sind hunderte Terroristen nach Nir Oz gekommen am 7. Oktober. Die Angst, die Panik, ich habe gottseidank gar keine Zeit, sie mir vorzustellen. Dass sie auf Facebook die Tötung einer alten Frau über deren Account gestreamt haben. Wie es den Frauen ergangen ist, die sie gefunden haben. Die "déformation professionelle", das immer auf eine gute Story aus sein – in diesem Moment tut es sehr gut. Trotzdem stelle ich mir die Frage: Wie kann man nur so viel Hass empfinden?

Ein Bild der Verwüstung nahe Gaza: Es stinkt nach Rauch, selbst die Sträucher sind verbrannt.
Ein Bild der Verwüstung nahe Gaza: Es stinkt nach Rauch, selbst die Sträucher sind verbrannt. © Heidi Geyer

Am Abend spricht Markus Söder mit den Angehörigen von Hamas-Geiseln in der Deutschen Botschaft in Tel Aviv. Wir Journalisten werden aufgefordert, uns im Hintergrund zu halten. Ich treffe eine junge Frau wieder, die ich schon vor ein paar Wochen in München gesehen hatte. Ihr Cousin Itay ist immer noch in der Gewalt der Hamas. Die Geschichte, aber auch die Entschlossenheit der jungen Frau hatten mich so gerührt, dass ich auf der Pressekonferenz in Tränen ausgebrochen bin. Lange habe ich damit gehadert, dass ich in dem Moment keine professionelle Distanz halten konnte. Als ich sie wiedersehe, bin ich auch wieder nah am Wasser gebaut. Wie soll man das aushalten, wenn die Liebsten in der Gewalt von Terroristen sind, die jegliche Menschlichkeit verloren haben? Der Schmerz steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

Meinen Kollegen geht es vermutlich ähnlich auf dieser Reise. Auf der Busfahrt albern wir herum, sind ohnehin alle sehr müde und geschafft von diesem Tag. Es ist wieder ein bisschen wie auf meiner Urlaubsreise vor eineinhalb Jahren. Nun sitze ich am Flughafen und stelle mir die gleiche Frage wie damals: Wie soll dieser Konflikt nur jemals enden? Wie soll bei so viel Hass irgendwann Frieden kommen? Die Antwort auf diese Fragen ist heute noch viel weiter weg als vor eineinhalb Jahren.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.