Der wortmächtige Ex-Bundespräsident wird 90
Richard von Weizsäcker: Ein Freiherr mit bürgerlichen Tugenden. Er hat den Deutschen schon mehrmals gesagt, was wichtig ist – nicht nur als Präsident. Am Donnerstag wird er 90 Jahre.
Die Visionen hören nicht auf. Wenn einer wie er im hohen Alter noch wirbt – für eine Welt ohne Atomwaffen zum Beispiel, dann klingt das weniger spinnert, weniger illusorisch: Weil sein Wort „Gewicht“ hat, wie es so schön heißt. Bei Richard von Weizsäcker war das schon immer so.
90 Jahre wird er am Donnerstag, der „Preuße aus Stuttgart“, wie Helmut Schmidt ihn nennt. Das klingt flapsig, der um anderthalb Jahre ältere Hanseat darf so was. Und es dürfte dem Jubilar gefallen. Es sind keineswegs nur die großen Worte, mit dem „Häuptling Silberzunge“ seit Jahrzehnten zu beeindrucken weiß: „Nö!“ sagte er letzte Woche im Frühstücksfernsehen zum Moderator. Der wollte ihn „Herr Bundespräsident“ nennen.
Dabei ist er für die meisten Deutschen genau das. Noch immer, 16 Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Amt, ist er Anwalt für das Gute. Vor allem, wer die Achtziger bewusst erlebt hat, der erinnert sich an den Adelsspross, der zum Sinnbild bürgerlicher Tugend wurde, obwohl es auch in seiner Biografie Flecken und Brüche gibt – und man erinnert sich an „The Rede“.
So nannte die „New York Times“ das, was das Staatsoberhaupt am 8. Mai 1985 im Blumen-geschmückten deutschen Bundestag abliefert. 4500 Worte waren es anlässlich des 40. Jahrestages zum Kriegsende. Danach standen die Abgeordneten auf und sangen die Hymne. Das Ausland war beeindruckt bis begeistert, Weizsäcker war ein Star.
Was war da geschehen? „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“, hatte der Bundespräsident gesagt, Allgemeingut heute, aber vor knapp 25 Jahren war Deutschland noch anders. Der Gedanke, Deutsche seien so sehr Opfer wie Täter gewesen, war weit verbreitet, nicht nur die notorische Vertriebenenlobby pflegte das Bild, auch Weizsäckers Partei, die CDU.
Weizsäcker stellt die Reihenfolge klar: Die Ursache und die Wirkung: „Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.“ Und: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ Man hörte das nicht so gerne damals. Auch nicht seine Abrechnung mit der vermeintlichen Ahnungslosigkeit: „Jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erdulden mussten“, sagte er, und: „Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern.“ Und schließlich: „Wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten.“ Das Protokoll verzeichnet gelegentlich mehr Beifall bei der Opposition als bei Schwarz-Gelb.
„Nicht nur Konservative“ erinnert sich Weizsäcker, haben sich an dieser Rede gestoßen. Im Plenarsaal des Bundestags saß Helmut Kohl, der Weizsäcker einst in die CDU holte. Doch das Verhältnis war da schon gestört. Das ist es bis heute. Weizsäcker hatte es mit der Weltoffenheit und der geistigen Unabhängigkeit, die Kohl am evangelischen Freiherrn schätzte, ein wenig übertrieben. Er war Anfang der Siebziger als einer der wenigen in der CDU für Willy Brandts Ostvertäge. Kohl konnte zur Strafe zweimal verhindern, dass Weizsäcker Bundespräsident wurde, 1984 nicht mehr.
Den Krieg, den Weizsäcker als „Gebirge von Leid“ bezeichnet, hat er selbst mitgemacht. Als Mitglied eines Eliteregiments gehörte er zu den Belagerern von Leningrad, wo von 1941 bis 1944 rund 1,1 Millionen Menschen erfroren oder verhungerten. „Viele sind falschen Idealen hinterhergelaufen“, sagte er. Das galt auch für ihn selbst und andere in seiner Familie.
Was Weizsäcker den Deutschen sagte, muss erst recht für seinen Vater gelten, der war Staatssekretär in Hitlers Außenministerium. Nach dem Krieg beeilte sich der Sohn mit dem Jura-Studium, um seinen Papa bei den Nürnberg Kriegsverbrecher-Prozessen rauszuhauen – Reden konnte er schon immer.
Auch nach seiner Amtszeit als Bundespräsident gelangen ihm Worte von bleibendem Wert. „Machtversessenheit und Machtvergessenheit der Parteien“, sozusagen die Überschrift über jede Kritik an einer Politik, die sich nur an Wahlerfolgen orientiert, war 1992 eine Watschn für seinen Parteifeind Kohl.
Weizsäckers Bescheidenheit ist nicht Zurückhaltung und nicht Mangel an Eitelkeit. Und wenn er in Sandra Maischbergers Porträt als Beruf „Zeitzeuge“ angibt, dann grenzt das an Koketterie.
Noch immer will er etwas vorantreiben. „Vater ist wie ein Fahrrad“, sagt Sohn Fritz, „Wenn er sich nicht bewegt, fällt er um.“
„Die Russen und die Amerikaner müssen den Anfang machen“, schrieb Weizsäcker in seinem Plädoyer zur atomaren Abrüstung. Zwei Monate ist das her. Gerade ging Obamas Konferenz zu dem Thema vielversprechend zu Ende. Die Visionen hören nicht auf.
Matthias Maus