Der tägliche Massenmord
Die Terrorgruppe "Islamischer Staat" tötet im Irak systematisch Gegner und Andersgläubige. AZ-Vize Timo Lokoschat fragt sich, wo die Proteste gegen diesen täglichen Genozid bleiben.
Die jungen Männer – es sind Hunderte – werden in Lastwägen herangekarrt, Aufseher prügeln sie von den Ladeflächen. Sie müssen sich flach in eine ausgehobene Grube legen. Dann gehen vermummte Gestalten mit Maschinengewehren die Reihen entlang und ballern mit verstörender Lässigkeit in die Körper.
In der nächsten Szene sieht man, wie Menschen an ein Flussufer gezerrt werden. Ein Mann schießt ihnen in den Kopf, ein anderer stößt die Sterbenden ins Wasser. Immer und immer wieder.
Videos dieser Art kursieren derzeit hunderte auf Portalen wie Youtube. Die Szenen sind kaum zu ertragen. Es ist die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS), die sich mit ihren Morden brüstet.
Weltweite Proteste, wie gegen Israel oder Russland, gibt es nicht. Das Abschlachten wird ausgeblendet. Während von Putin angeblich der „Dritte Weltkrieg“ droht und Israel einen „Genozid“ betreibt, findet der wahre Massenmord derzeit jeden Tag in Syrien und dem Irak statt. Tausende Menschen werden als Gegner oder Andersgläubige identifiziert, selektiert, abtransportiert und systematisch hingerichtet.
In wenigen Tagen fallen der Terrorgruppe mehr Menschen zum Opfer als dem gesamten Gaza-Krieg. Sie sterben nicht als „Kollateralschäden“, sondern werden bewusst getötet: mit dem Messer, dem Gewehr, dem Galgen.
Über diesen Genozid, ohne Anführungszeichen, herrscht auch in den muslimischen Gemeinden auf der ganzen Welt Schweigen. Kein Aufschrei, keine Demos, keine Distanzierung. Ist es doch viel bequemer, sonntags auf den Marktplätzen den alten Todfeind Israel für alles Übel dieser Welt verantwortlich zu machen als die eigenen, entfesselten Glaubensbrüder anzuprangern, die mehr Muslime auf dem Gewissen haben als der verhasste Judenstaat.
Wo sind die „Stoppt IS“-Plakate? Wo die Solidarität unter Muslimen?
Internationale Gremien, die nahezu im Tagesrhythmus Israel maßregeln und Sanktionen gegen Russland beschließen, versagen in Sachen Syrien und Irak kläglich. Fast wirkt es so, als seien die Leben der dort getöteten Muslime weniger wert.
Die dramatische Lage der Christen wird ohnehin vergessen. Dabei ist das Land drauf und dran, „christenfrei“ zu werden – die fast 2000 Jahre alte Geschichte dieser Religion im Irak geht dem Ende entgegen.
Aus der „Wiege der Menschheit“ ist ein menschlicher Abgrund geworden. Hinschauen, bitte.