Der Stolz der Kumpel liegt in Trümmern

Das Riesen-Beben im Saarland hat bei den Menschen zwar keine körperlichen Verletzungen hinterlassen, dafür aber eine ganze Welt erschüttert. Nun herrscht Verzweiflung und Wut auf allen Seiten. Ein Ortsbesuch.
VON MATTHIAS MAUS
Man kann ja mal fragen: Spüren Tiere Erdbeben im Voraus? Claudia Stäbe müsste das wissen als tiermedizinische Fachangestellte in Saarwellingen. Hier, wo eine Welt erschüttert wurde, als der Boden unter den Füßen wackelte, als die Menschen zu Tausenden auf die Straßen strömten, erst in Angst und dann vor Wut: Hat also Claudia Stäbe mehr zu tun gehabt in der Tierarzt-Praxis von Jörg Waschbüsch, bevor zementsackgroße Brocken aus dem First der St. Blasius-Kirche fielen? „Also, einer Katze ist eine Autan-Flasche auf den Schwanz gefallen – sonst war nix bei uns.“
Claudia Stäbe muss selber grinsen. Nur der Umstand, dass niemand körperlich zu Schaden kam bei dem menschengemachten Erdbeben, das mit einem Schlag die Lebensgrundlage für Tausende vernichten könnte, erlaubt so feinen Humor. Ansonsten haben die Leute hier im Kreis Saarlouis wenig zu lachen in diesen Tagen – und wohl auf längere Sicht auch nicht.
Die Landesregierung hat den Bergbau gestoppt. Für immer, hoffen die meisten in Saarwellingen. Vorübergehend, hoffen die mehr als 5300 Bergleute an der Saar. Leute wie Uwe Motz, der auch erschüttert war nach dem Beben: „Ich hatte Angst, gelyncht zu werden.“ Es ist nicht leicht, Bergmann zu sein. Die Stimmung ist aufgeheizt.
„Was interessiert Sie in München an Saarwellingen“, fragt Pastor Karl-Heinz Gorges, er wirkt müde und ein bisschen genervt. Man kommt schwer zu ihm. Sein Gotteshaus ist eingezäunt. Noch immer sind Steine locker in mehr als 30 Metern Höhe. Die Aufmerksamkeit für seine Gemeinde ist dem Pastor gar nicht recht. Seit Tagen erzählt der 65-Jährige Reportern aus Hamburg, Berlin und Paris, wie er vergangenen Samstag Steine regnen sah vom Turm seiner Kirche. Und wie froh er war, dass die Kinder seines Bibelkurses schon anderthalb Stunden vorher die Treppe vor der Kirche runtergegangen waren. „Es gab Gottseidank nur Sachschaden“, sagt er, „und die Schäden an der Seele, die kommen später“.
Pfarrer Gorges weiß, wie alle in der 13000 Menschen umfassenden Großgemeinde, dass der Bergbau 1500 Meter unter der hügeligen Landschaft das Beben ausgelöst hat. Ein Beben von der Stärke 4,0 genauer gesagt, mit einer Schwingungsgeschwindigkeit von bis zu 94 Millimeter in der Sekunde.
Jeder hier kann diese Zahlen runterbeten, und Bauamtsleiter Siegbert Molitor weiß, was sie bedeuten: „Da zieht es einem den Boden unter den Füßen weg, da entlädt sich die Kraft einer Rakete unterm Haus.“ Entsprechend sehen manche Gebäude auch aus.
Das Fitness-Studio von Mariano Saia ist acht Jahre alt: „Es war furchtbar“, sagt seine Frau Ilka mit einem Blick auf einen treppenförmigen, fünf Millimeter breiten Riss vom Boden bis zu Decke. „Ein Schlag, dann hat alles gewackelt.“ Und jetzt müsse endlich Schluss sein. Damit man sie nicht falsch verstehe: „Die Bergleute tun mir leid, die machen nur ihren Job“, sagt sie. Aber nein, dass die das Dorf wieder „unterfahren“, dass also weiter gebohrt wird, das mag sie sich nicht vorstellen.
Bürgermeister Michael Philippi auch nicht. „Ich war nie Bergbau-Gegner“ sagt der füllige SPD-Mann mit dem fröhlichen Schnauzer. „Meine Familie ist vom Bergbau geprägt.“ Man sei auch Schäden gewohnt. Der Ortsteil Reisbach liegt durch den Bergbau heute bis zu vier Meter tiefer als noch vor 20 Jahren. Der Boden senkt sich: „Aber das hier hat eine neue Qualität.“
Vor zwei Jahren begann die Ruhrkohle AG mit der Ausbeutung des Feldes „Primsmulde Süd“, direkt nebenan. Steinkohle, mächtige Flöze in 1500 Meter Tiefe. Relativ profitabel, das beste Bergwerk Deutschlands, sagen die Kumpel. „Seitdem wackelt’s dauernd“, sagt Schuldirektor Hans-Peter Klauck: „35 Beben allein in diesem Jahr.“
„Die Kinder sind total verunsichert“, sagt Rektor Klauck. Die Kappelschule ist gesperrt, die Wand-Risse müssen noch untersucht werden, Rektor Klauck hat die vier Klassen zunächst beisich in der Gutberg-Schule untergebracht: Was sagt man den Kleinen? „Dass jetzt die Beben aller Voraussicht nach ein Ende finden – nach dem Ende des Abbaus.“
Viktor Schag, Uwe Motz und seine Kollegen im Bergwerk Ensdorf wollen sich damit nicht abfinden. „Natürlich kann es uns nicht egal sein, was die Leute 1500 Meter über uns denken“, sagt Schag. Aber sie wollen noch eine Chance. Im Betriebsratsbüro ist Stallwache, Kumpel werden am Telefon informiert, getröstet.
Hier wird man mit „Glückauf“ begrüßt – aber die Mienen sind düster. Mittvierziger mit Figuren wie Bären erzählen von ihrem Stolz und von ihren Existenzängsten: „Seit 28 Jahren bin ich unter Tage“, sagt Maschinenführer Motz (44): „Es ist eine Herausforderung, die Naturgewalten zu beherrschen.“ Und wenn das Werk dicht macht? Motz zuckt mit den Schultern. „Wo sollen denn die neuen Jobs herkommen?“, fragt Kumpel Michael Fritz (39). „Von BMW vielleicht?“ Seine Zwillinge sind fünf Wochen alt. Wie denn die Arbeitsmarktlage in München aussehe, will er wissen. Die jüngsten Nachrichten sind auch hier keinem entgangen.
Im Büro sprechen sie über die Globalisierung, über den Fluch der Aktienkurse, über gierige Manager und über neue technische Methoden. Von einem Bergbau ohne Erschütterungen. Doch die einst so stolzen Bergleute, sie sind in der Defensive: „Es ist ein schöner Beruf, und man sollte ihn nicht verachten“, sagt Pascal Breir mit einem Seitenblick in die Nachbarschaft. Er baut gerade ein Haus in Saarwellingen. Und er hat gerade mehr Zeit, sich darum zu kümmern, als ihm lieb ist. Er ist Partiemann, Vorarbeiter, und möglicherweise bald arbeitslos. Breir ist einer von 160 Saarwellingern, die in dem Bergwerk arbeiten, das Saarwellingen erschüttert.
Wie ist das also, wenn man mit eigenen Händen untergräbt, was man mit denselben Händen aufbaut? „Ich will ganz ehrlich sein“, sagt er: „Ich hab auch nie gedacht, dass es hier mal so kracht.“ Aber – „Sehen Sie selbst“ – es gibt keine Schäden an seinem Haus: „Es ist ein Holzhaus. Ich weiß nur nicht, ob ich’s zu Ende bauen kann.“