Der Nobelpreis für den Kampf gegen Giftgas

Der Friedensnobelpreis geht an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen. Deren Kontrolleure müssen oft unter abenteuerlichen Bedingungen arbeiten.
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Chemiewaffen-Inspektoren in der libyschen Wüste: Deutschland hilft der Organisation beim Aufspüren der Chemie-Waffen.
dpa / picture alliance Chemiewaffen-Inspektoren in der libyschen Wüste: Deutschland hilft der Organisation beim Aufspüren der Chemie-Waffen.

 Der Friedensnobelpreis geht an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen. Deren Kontrolleure müssen oft unter abenteuerlichen Bedingungen arbeiten.

Oslo - Die Helden sind Beamte: Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen OPCW, am Freitag mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, ist eine Arbeitsgemeinschaft internationaler Diplomaten. Für den deutschen Beitrag ist das Auswärtige Amt zuständig.

Und doch geht’s hier nicht ums Händeschütteln auf dem roten Teppich oder Reden beim Sektempfang. Sondern um schmutzige und extrem gefährliche Arbeit: Die im niederländischen Den Haag ansässige Organisation soll weltweit die Produktion, Lagerung und Zerstörung von Chemiewaffen kontrollieren.

Gegründet wurde sie 1997, um die Umsetzung der internationalen Chemiewaffenkonvention zu überwachen, die im selben Jahr in Kraft getreten war. Sie arbeitet eng mit den Vereinten Nationen zusammen, ist aber unabhängig von der UNO. Und wie in manch anderen Fällen wie dem Nobelpreis für Barack Obama 2009 schwingt in der Verleihung wohl die Hoffnung mit, dass sie den hohen Erwartungen gerecht werden möge.

Die Aufgabe, die dringend ist wie nie und viel Mut erfordert, heißt: Syrien. Das Land im Nahen Osten hatte sich im September nach der Drohung eines US-Militäreinsatzes bereit erklärt, als 190. Staat der Chemiewaffenkonvention beizutreten. Der Sicherheitsrat verabschiedete daraufhin eine Resolution, wonach die Produktionsstätten zur Herstellung syrischer Chemiewaffen bis zum 1. November und das komplette Arsenal bis Mitte 2014 zerstört werden sollen.

Damit reagierte das höchste UN-Gremium auf einen Angriff mit Sarin, bei dem am 21.August in einem Vorort von Damaskus hunderte Menschen getötet worden waren – darunter viele Kinder. Seit Anfang Oktober halten sich etwa 30 Experten der OVCW in Syrien auf, um die dort lagernden C-Waffen zunächst zu erfassen und später zu beseitigen. Erst vorgestern trafen zwölf weitere Experten ein. Wie ein Sprecher des Auswärtigen Amts mitteilte, ist noch nicht überschaubar, ob deutsches Know-how beim Bau einer Anlage zur Vernichtung der Waffen zum Einsatz kommt: „Dafür ist es noch zu früh. Zuerst werden Angaben aus Damaskus überprüft, dann wird ein Plan erstellt.“

Die Giftgastoten in Syrien hätten die Notwendigkeit unterstrichen, „die Bemühungen zur Beseitigung dieser Waffen zu verstärken“, begründete der Vorsitzende des Nobelkomitees, Thorbjörn Jagland, die Entscheidung. Jagland kritisierte in seiner Rede USA und Russland, die sich in zähen Verhandlungen auf die Chemiewaffenvernichtung in Syrien geeinigt hatten, selbst aber noch nicht alle ihre C-Waffen vernichtet haben: Russland will bis 2015 so weit sein, die USA lassen sich bis 2023 Zeit.

Mammut-Mission im Bürgerkriegsland

Wer hier Giftgas entsorgt, hat den Nobelpreis verdient. Syrien steht mitten in einem blutigen Bürgerkrieg mit bisher 100000 Toten, die Gegner sind unversöhnlich und kämpfen ums Überleben. Die Chemiewaffenkontrolleure sind auf Feuerpausen angewiesen – doch können die Kämpfe jederzeit und überall wieder aufflammen.

Die Mission ist nicht nur extrem gefährlich, sie ist auch eine Herkulesaufgabe. Das sprichwörtliche Pulverfass ist eher ein gigantischer Chemiewaffentank: Einer Schätzung des BND zufolge lagern in zumindest sechs syrischen Depots 900 Tonnen Sarin sowie jeweils 100 Tonnen Senfgas und das Nervengas VX. Eine Studie des Pentagons veranschlagt bis zu zehn Jahre für die Vernichtung. Wer aber stellt seine Leute für die Aufgabe ab, solange links und rechts die Granaten einschlagen? Und doch sollen bis Mitte 2014 alle syrischen Chemiewaffen vernichtet sein. Bisher sind erst 45 Experten in Syrien vor Ort.

Die Frage, wer sie schützt, bleibt unbeantwortet. Denn das Assad-Regime hat der Mission nicht ganz freiwillig zugestimmt, sondern erst, als ein militärischer Eingriff der USA anders nicht mehr abzuwenden schien. Ob also Einsicht hinter der Vernichtung der Chemiewaffen steht oder nur das Spiel auf Zeit, ist nicht klar. Niemand weiß, zu welchen Mitteln Assad greift, sollten ihn seine Gegner im Bürgerkrieg in die Enge treiben. Der Generaldirektor der OPCW, Ahmet Üzümcü, lobt sein Team für dessen Mut und erinnert daran: „Unser Mitgefühl gilt den Menschen in Syrien, die Opfer des Horrors chemischer Waffen wurden.“

Am Montag wird Syrien Mitglied der Organisation für das Verbot chemischer Waffen – und macht gleich sehr viel Arbeit. Doch anders als in vorausgegangenen Fällen wie Russland kann die Vernichtung des chemischen Massenvernichtungsarsenals nicht zu Friedenszeiten geschehen. Und heikel ist die Beseitigung der chemischen Massentötungsmittel oft allein schon wegen verrosteter Tanks oder Granathülsen.

Dass sich die Industriestaaten um die Vernichtung der gefährlichen Chemiewaffen kümmern, ist allerdings auch ein Stück ausgleichende Gerechtigkeit. Haben sie an deren Entstehen doch gut verdient: So hat nach Enthüllungen der „Daily Mail“ die britische Regierung zwischen 2004 und 2010 fünfmal die Lieferung von Natriumfluorid bewilligt, was zur Herstellung von fluorhaltigem Sarin verwendet werden kann.

Auch Deutschland, musste das Wirtschaftsministerium zugeben, hat Syrien 137 Tonnen waffenbrauchbare Chemikalien geliefert: Fluorwasserstoff, Ammoniumhydrogendifluorid, Natriumfluorid sowie Kalium- und Natriumcyanid-Zubereitungen. Nach sorgfältiger Prüfung im Hinblick auf den möglichen Missbrauch als Chemiewaffen natürlich. Syrien habe die Nutzung für zivile Zwecke plausibel dargestellt.

 

 

 

 

 

 

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