Der Missbrauch hört nicht auf
Im AZ-Interview: Die Frau des Verteidigungsministers über Päderasten und den Zölibat, über Macht und das Internet im Kinderzimmer.
AZ: Frau zu Guttenberg, warum ist über das Thema Missbrauch so lange geschwiegen worden?
STEPHANIE FREIFRAU ZU GUTTENBERG: Mädchen und Jungen, denen sexuelle Gewalt widerfährt, sind zutiefst beschämt und fühlen sich beschmutzt. Dazu kommen noch Täterstrategien, Druck aufzubauen. Den Opfern wird zum Beispiel eingeredet: „Du hast es doch auch gewollt.“ Es braucht eine unheimlich lange Zeit und eine enorme Kraft, bis die Betroffenen realisieren, dass sie selbst keine Schuld haben.
Sie wurden in München bei den Armen Schulschwestern erzogen. Sind kirchliche Einrichtungen besonders gefährdet?
Nein. Alle Institutionen, wo viele Kinder zusammen sind, sind gefährdet, weil Täter einfach solche Orte suchen, wo sie die Nähe zu Kindern haben. Die Kirche ist als einer der größten Träger solcher Institutionen davon natürlich nicht ausgeschlossen.
Derzeit sind vor allem katholische Internate im Visier. Liegt es daran, dass die Kirche ihre moralischen Maßstäbe besonders hoch legt, mit Sexualität aber einen verklemmten Umgang hat?
Für mich ist das eine unheimlich komplexe Frage. Ich verlasse mich da auf Experten. Professor Michael Osterheider von der Uni Regensburg sieht den Zölibat nicht im direkten Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch. Aber er kann ein Deckmantel sein. Osterheider sagt: Leute, die andere sexuelle Interessen haben, würden sich von einer Institution angezogen fühlen, wo nicht verlangt werde, dass man in einer Partnerschaft lebe. Und Priester haben die Möglichkeit, mit Kindern zusammen zu kommen. Diese Argumentation kann ich sehr gut nachvollziehen.
Wo sehen Sie die Ursachen für Kindesmissbrauch?
Man muss die Täter genau unterscheiden: in Pädophile – sie haben eine anerkannte Störung der Persönlichkeitsstruktur und sind ausschließlich nur vom kindlichen Körper erregt. Aber sie stellen maximal 30 Prozent der Täter. Der Rest sind Gelegenheitstäter. Bei denen spielt Macht eine Riesenrolle. Und dann gibt es noch die Opfer, die als Erwachsene selbst zu Tätern werden. Bei 50 Prozent der Missbrauchten besteht dieses Risiko.
Der Großteil aller Missbrauchsfälle findet in der Familie und im sozialen Umfeld statt. Wie kann man Missbrauch da erschweren?
Man muss in der breiten Bevölkerung eine Aufklärung schaffen, die ein Hinsehen ermöglicht. Wir brauchen dringendst eine Fortbildung in allen sozialen Berufen. Wenn Lehrer und Kindergärtner wissen, worauf sie zu achten haben, können sie auch schneller reagieren.
Was ist mit den Eltern?
Die müssen mehr mit ihren Kindern reden. In Deutschland ist es so, dass ein Kind im Durchschnitt acht Mal um Hilfe bitten muss, ehe ihm geholfen wird.
Den Opfern wird nicht geglaubt?
Genau. Erst nach dem achten Mal. Das ist doch fatal. Wenn ein Kind nach Hilfe sucht, muss man davon ausgehen, dass es nicht lügt, sondern der Erwachsene. Und sei es noch so schlimm, dass man es sich nicht vorstellen will, weil man es sich ja auch kaum vorstellen kann. Man muss sich trauen, in diese Richtung zu denken. Das Thema darf nicht mehr stigmatisiert werden. Dann trauen sich die Opfer auch eher, Hilfe zu holen.
Wird es Päderasten in unserer Gesellschaft besonders leichtgemacht?
Ein knallhartes Ja. Während wir hier alle sitzen und jahrelang diskutieren, wer es tut oder nicht, hat derjenige es längst wieder getan. Dazu kommt das Internet. Es öffnet Pädokriminalität Tür und Tor.
Über den PC wird schon jeder siebte Jugendliche zwischen 13 und 15 Jahren sexuell angemacht.
Was kann man dagegen tun?
Das hat viel mit Aufklärung zu tun. Wie man seinen Kindern den Umgang im Straßenverkehr beibringt, muss man ihnen heute auch sehr deutlich die Gefahren der virtuellen Welt aufzeigen. Und das in einem Alter, wo sie einem noch zuhören. Ein PC mit Internetzugang sollte nie im Kinderzimmer stehen, sondern immer an einem Ort, wo Eltern auch sehen können, welche Seiten aufgerufen werden.
Sind Kinder und Jugendliche noch zu wenig aufgeklärt?
Man mag es nicht glauben. In unserer Welt ist inzwischen ja so vieles sexualisiert. Wenn man aber Jugendliche fragt, merkt man, dass ganz eklatante Lücken da sind. Ich bin immer sehr erstaunt, dass selbst in meiner Generation sehr wenige von ihren Eltern wirklich gut aufgeklärt worden sind. Sexuelle Aufklärung kommt noch immer zu kurz. Und was überhaupt kaum vorkommt, ist Aufklärung in puncto Missbrauch.
Auch bei den Jugendlichen selbst fallen inzwischen alle Grenzen. Da werden in der Toilette oder unter der Dusche heimlich Freunde mit dem Handy gefilmt und die Bilder versendet. Was rät Ihr Verein Opfern?
Jugendliche können die Dimensionen kaum überreißen. Wenn sie ein Foto ins Internet stellen, wird das millionenfach heruntergeladen. Einmal im Netz, immer im Netz. Opfer, die wissen, dass auch noch Bildmaterial von ihnen im Umlauf ist, brauchen noch länger, um darüber zu reden. Sie sind noch viel mehr beschämt. Das ist ein ganz gravierendes Problem, mit dem man sich auseinandersetzen muss.
Vor was fürchten Sie sich?
Meine größte Sorge ist, dass das Thema in vier Wochen wieder verebbt. Das wäre im Sinne der Kinder und der Opfer eine Katastrophe. Denn Missbrauch hört ja nicht auf.
Interview: Angela Böhm
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