Das sind Ihre Nachbarn, Mr. President!

Die ganze Welt blickt nach Washington D.C.: Wer wohnt ab Januar im Weißen Haus – Barack Obama oder Mitt Romney? Egal, wer es ist, die Nachbarn bleiben die gleichen: Tausende Obdachlose in der Stadt der Mächtigen und Reichen. Einer von ihnen ist André Colter, eine andere T. Sanders. Ihre Geschichte ist so ungewöhnlich wie ihr Vorname.
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Andre Colter schläft auf einer Parkbank an der Pennsylvania Avenue, im Herzen Washingtons, gerade mal 500 Meter entfernt vom Weißen Haus. Die Bank ist umringt von Bäumen, sie steht an einer mehrspurigen Straße. André Colter setzt sich, blickt nach oben: „Eines Nachts bin ich hier vorbeigekommen, wollte mein Buch lesen, und hier gab es Licht. Ich bin hier geblieben.“
André Colter ist 49 Jahre alt, lebt immer mal wieder auf der Straße, seit er die Highschool verlassen hat. Seit ein paar Monaten ist diese Bank sein Bett. Sein Weg in die Obdachlosigkeit begann mit einer verkorksten Jugend. Ein Junge mit wenig Selbstvertrauen schließt sich den falschen Freunden an, wird früh Vater, fühlt sich überfordert, nimmt Drogen. Marihuana, Kokain, Pillen.
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„Irgendwann bin ich dann mitten in der Nacht einfach von zuhause abgehauen“, erzählt André, während er durch die lauten Straßen von Washington läuft. An einer Ecke bleibt er stehen, schaut auf einen kleinen Platz. „Hier habe ich meine erste Nacht auf der Straße verbracht.“
Seine Geschichte klingt wie ein Klischee. Doch der 49-Jährige ist kein Stereotyp. Er trägt ein weißes, sauberes Shirt, eine Jeans ohne Löcher. Die Ohrstöpsel seines Musikplayers baumeln um seinen Hals. Den sportlichen Rucksack trägt er lässig über eine Schulter geschwungen. Nur Menschen, die ihn kennen, wissen, dass er obdachlos ist.
Er müffelt nicht, bettelt nicht, ist nicht betrunken und seit einigen Jahren clean. André studiert sogar, BWL, damit er bessere Jobchancen hat. Manchmal findet er einen Job, doch das Geld reicht nie für ein Zimmer.
Wie auch, meint Patricia Mullahy Fugere von der Legal Clinic for the Homeless, eine Organisation, die sich für die Rechte der Obdachlosen einsetzt. „Der Mindestlohn in DC liegt bei 8,25 Dollar die Stunde. Rechnungen zufolge müsste man 140 Stunden die Woche arbeiten, um damit hier eine Wohnung bezahlen zu können.“
1500 Dollar für eine kleine Wohnung muss man durchschnittlich hinblättern. Für die knapp 165 000 Millionäre (fast vier Prozent) in DC und den Nachbarcounties ist das ein Klacks. Politiker, Lobbyisten, Anwälte oder Berater, die in DC durchschnittlich 70.000 Dollar im Jahr verdienen, können sich hohe Mietpreise leisten. 7000 Menschen hingegen leben auf der Straße.
Es gibt Unterkünfte für Obdachlose und Programme der Stadt. Doch die Nachfrage ist einfach zu groß, sagt ein Sprecher des Ausschusses für Wohnraum in Washington. Außerdem wurde das Geld für die Projekte heuer gekürzt.
Und so ziehen die Präsidenten ein ins Weiße Haus und wieder aus, aber die Nachbarn bleiben. „Washington ist eine der Städte mit der höchsten Pro-Kopf-Obdachlosigkeit in den USA“, klagt Michael Stoops von der National Coalition for the Homeless. Er kümmert sich um Betroffene, die Organisation will ein Sprachrohr sein. „Wir haben eine sehr sichtbare Obdachlosigkeit, und es scheint egal zu sein, wer im Weißen Haus ist oder wer die Mehrheit im Kongress hat – wir haben uns an den Anblick gewöhnt."
André weiß, wie es ist, übersehen zu werden. „Die Leute laufen an dir vorbei, ignorieren dich. Mit einem Hundewelpen sprechen sie sofort.“
Der amerikanische Traum ist stark in der Gesellschaft verwurzelt. So stark, dass selbst Obdachlose an ihn glauben. T. Sanders zum Beispiel, ebenfalls Afroamerikanerin, wie gut 40 Prozent aller Obdachlosen in den USA. Sie hat ihren richtigen Vornamen vor Jahren abgelegt, er war ihr zu mädchenhaft. Die 39-Jährige lebt in Rockeville, einem Vorort von Washington DC, sie schläft seit Monaten im Kleinwagen einer Freundin.
T. fährt zu der Stelle, an der sie nachts das Auto parkt, eine ruhige Straße vor einem leerstehenden Gebäude. „Ich stelle mich immer hier zwischen die beiden Lastwägen und hoffe, dass mich niemand sieht.“ Hier seien oft Männer unterwegs, die obdachlose Frauen anquatschen, sie als billige Prostituierte sehen. Das möchte T. nicht riskieren.
Ihr Lebenslauf liest sich wie der gelebte amerikanische Traum. Sie kommt aus armen Verhältnissen, wird früh Mutter, entscheidet sich dann aber, ihre Leben umzukrempeln. Sie studiert, macht ihren Master, gründet ihre eigene Hilfsorganisation. Sie will junge Menschen, die auf die schiefe Bahn geraten sind, dabei unterstützen, ihren Weg zu finden. Doch dann laufen die finanziellen Hilfen für ihr Projekt aus, sie wird krank, kein Arzt weiß bis heute, was es ist. Sie muss auch ihren zweiten Job, eine Festanstellung, aufgeben. Ihre Ersparnisse reichen für drei Monate.
T. blickt auf den kleinen Koffer hinter ihrem Sitz, ihr Hab und Gut. „Ich habe da Klamotten zum Wechseln drin“, erzählt sie. Umziehen und waschen erledigt sie meist bei McDonalds oder in der Bibliothek. „Außerdem hab ich da drin noch ein Kostüm und schicke Schuhe, falls ich mal ein Vorstellungsgespräch habe.“ Eine Jobsuche vom Auto aus ist schwierig. T. ist unverdrossen:
„Katastrophen passieren. Der amerikanische Traum sagt, dass du dich von diesen Dingen erholen, wieder auf die Beine kommen musst. Da draußen gibt es ein Haus mit meinem Namen drauf. Ich werde es mir holen.“
Ihre Zuversicht trägt Früchte. Vier Wochen später schreibt sie, sie habe einen Job gefunden. Sie lebt in einer kleinen Kellerwohnung – mit wenigen Fenstern, dafür aber in ihren eigenen vier Wänden.