Das Kreuz mit Kreuzen: Der große AZ-Service zur Bundestagswahl
MÜNCHEN - Wählen ist einfach – dachten wir. Doch dann begann die Diskussion um die berühmten Überhangmandate. Die AZ erklärt, was Sie über das deutsche Wahlsystem wissen müssen.
Erststimme: Mit der Erststimme werden Direktkandidaten in den Bundestag gewählt. Auf dem linken Teil des Wahlzettels stehen in schwarzer Schrift die Namen der Kandidaten. Wer die meisten Stimmen im Wahlkreis erhält, hat ein Direktmandat und kommt in den Bundestag. Die Stimmen für die anderen Kandidaten fallen unter den Tisch.
Zweitstimme: Wichtiger als die Erststimme ist die Zweitstimme: Auf der rechten Seite des Wahlzettels stehen in blauer Schrift die Namen der Parteien. Die Zweitstimme entscheidet, wie viele Sitze eine Partei im Bundestag bekommt. Wichtig: Beim Wählen kann man die Stimmen splitten, die Erststimme zum Beispiel dem CSU-Kandidaten geben und die Zweitstimme der FDP. Daraus ergeben sich kuriose Wahlstrategien.
Sitze: Es gibt offiziell 598 Sitze im Bundestag. Wenn die Wahl vorbei ist, wird errechnet, wie viele Sitze den Parteien nach den Zweitstimmen zustehen. Parteien, die weniger als fünf Prozent oder weniger als drei Direktmandate erzielen, bleiben unberücksichtigt.
Was übrig bleibt, wird über Landeslisten aufgefüllt
Dann wird ausgerechnet, welchen Anteil die jeweiligen Landesverbände am Wahlergebnis haben: Wenn die SPD aus Nordrhein-Westfalen zum Beispiel 25 Prozent aller in Deutschland erzielten SPD-Zweitstimmen bekommen hat, bekommt NRW auch ein Viertel der SPD-Sitze im Bundestag. Die Sitze werden innerhalb der Landesverbände der Parteien verteilt: Zuerst kommen dann die Direktkandidaten dran, die einen Wahlkreis gewonnen haben. Was dann noch an Sitzen übrig bleibt, wird mit Kandidaten der Landeslisten aufgefüllt.
Landeslisten: Die Parteien stellen die Listen jeweils pro Bundesland auf. Auf einem Parteitag wird vorher abgestimmt, wer welchen Listenplatz bekommt. Wer weit vorne steht, kommt beim Auffüllen der Zweitstimmensitze zuerst ins Parlament. Manchmal nützt ein vorderer Listenplatz aber auch nichts. Beispiel CSU: Weil zuerst die siegreichen Direktkandidaten ihr Mandat bekommen, könnte es sein, dass kein CSUler über die Liste nachrückt, weil alle Plätze, die nach Zweitstimmen-Anteil möglich sind, vergeben sind.
Überhangmandate: Sie entstehen, wenn eine Partei durch ihre gewonnenen Erststimmen-Mandate mehr Sitze im Bundestag bekommt, als ihr nach dem Anteil der Zweitstimmen zustehen. Beispiel: Die CDU erreichte bei den letzten Bundestagswahlen 2005 in Baden-Württemberg 39,2 Prozent durch die Zweitstimmen. Umgerechnet wären das 30 Sitze im Bundestag gewesen. Insgesamt jedoch hatten 33 CDU-Direktkandidaten ihren Wahlkreis gewonnen – drei Mandate mehr, als der CDU zustanden. Weil man aber laut Wahlgesetz keinem direkt Gewählten den Einzug ins Parlament verweigern kann, bekam die CDU die drei Mandate dazu. Der Bundestag musste erweitert werden. Auf diese Weise kamen so bei den letzten Bundestagswahlen neun Kandidaten der SPD und sieben der CDU per Überhangmandat ins Parlament. Bei dieser Bundestagswahl rechnen Experten mit ungefähr 20 Überhangmandaten für die Union. Sogar die CSU könne ein bis zwei Überhangmandate erzielen. Der SPD rechnen Experten bis zu fünf Extra-Mandate zu.
Negatives Stimmgewicht: Die Überhangmandate haben eine verrückte Nebenwirkung: Wenn eine Partei in einem Bundesland mit vielen Überhangmandaten weniger Zweitstimmen bekommt, kann sie unter Umständen insgesamt mehr Abgeordnete ins Parlament schicken.
Ein Beispiel: Hätten bei der Wahl 2005 in Baden-Württemberg 50000 Wähler weniger der CDU ihre Zweitstimme gegeben, hätten dem CDU-Landesverband dort statt 30 nur 29 Sitze zugestanden. Der eine Sitz wäre aber nicht an eine andere Partei gefallen, sondern an einen anderen CDU-Landesverband.
Verrückt: Parteien werden für ein schlechtes Ergebnis belohnt
Denn die CDU-Baden-Württemberg hat ihre 33 Direkt-Kandidaten ohnehin durchgebracht, egal ob es formell 29 oder 30 Sitze wären. Aber, und das ist der Clou: Wenn die Schwaben weniger Zweitstimmen haben, wird ihr Anteil am Gesamtergebnis kleiner – und damit auch ihr Anteil am Topf, der mit CDU-Listenbewerbern aufgefüllt werden darf. Und den darf dann ein anderer Landesverband besetzen. Sprich: Hätte die CDU Baden-Württemberg 50000 Stimmen weniger gehabt, hätte die CDU insgesamt ein Mandat mehr bekommen.
Die Parteien werden also nicht für ein schlechteres Ergebnis bestraft, sondern mit einem Bonus belohnt. Dies hat das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Bis 2011 muss dieser Systemfehler korrigiert werden.
Heikles Regieren: Es könnte durchaus sein, dass Union und FDP nur mit Überhangmandaten eine Mehrheit bekommen. Die Sache mit den Überhangmandaten hat aber einen Haken: Ihre Zahl schmilzt während der Legislaturperiode dahin. Wenn ein Abgeordneter ausscheidet – weil er stirbt oder woanders arbeiten will – wird sein Mandat nicht ersetzt, wenn seine Partei Überhangmandate errungen hatte. Und zwar so lange, bis alle Überhangmandate des jeweiligen Bundeslandes abgebaut sind. So könnte eine knappe Mehrheit schnell weg sein. In dieser Legislaturperiode hat die CDU so zwei Mandate verloren. Da wird es sich Merkel ganz genau überlegen, mit welchem Stimmen-Polster sie in eine Koalition geht.
Volker ter Haseborg