Claudia Roth: "Das ist Guantanamo in Bayern"

Die 62-jährige Grünen- Politikerin Claudia Roth über die Sicherheitspolitik der CSU, den Streit mit der Türkei und das Sterben im Mittelmeer.
Berlin - Claudia Roth ist seit 2013 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Vor der Bundestagswahl am 24. September sprach sie mit der AZ über die CSU, die Türkei und das Sterben im Mittelmeer.
AZ: Frau Roth, wie fühlt es sich an, in der Türkei, einem Nato-Partnerland, als Repräsentantin des Deutschen Bundestages unerwünscht zu sein?
CLAUDIE ROTH: Das fühlt sich gar nicht gut an, zumal es ja Ziel des Besuchs war, den Gesprächsfaden mit den demokratischen Kräften nicht abreißen zu lassen. Ich reise aber weiter in die Türkei, um meine Freunde zu sehen. Das lasse ich mir nicht von Recep Tayyip Erdogan nehmen.
Die Türkei ist massiv vom Weg der Demokratie abgekommen. Was kann die Bundesregierung tun, um sie zurückzuholen?Die Türkei steht tatsächlich an einem Scheideweg, dort läuft schon lange eine Entdemokratisierung. Die Politik der Bundesregierung und der EU muss jetzt darauf ausgerichtet sein, Zivilgesellschaft, Demokraten und freie Presse zu unterstützen – gegenüber Ankara aber klare Kante zu zeigen.
Und das soll Erdogan beeindrucken?
Die Türkei ist wirtschaftlich auf Europa angewiesen, das weiß auch Erdogan. Er muss endlich verstehen, dass diese permanenten Provokationen und Entrechtungen durch nichts zu rechtfertigen sind. Es ist nicht hinnehmbar, dass Journalisten wie Deniz Yücel oder der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner in Haft sitzen.
Was ist in dieser Hinsicht bisher schiefgelaufen?
Es rächt sich, dass die Politik der Bundesregierung und der anderen EU-Mitgliedstaaten gegenüber der Türkei viel zu hasenfüßig war – und wir uns mit dem Flüchtlingsdeal zudem erpressbar gemacht haben. Zumindest der Tonfall ändert sich gerade ein wenig…
Reicht der schärfere Ton aus, den die Bundesregierung nun im Umgang mit Erdogan anstimmt?
Nein, da müssen schon auch Taten folgen: keine Waffenlieferungen an Erdogan, keine Wirtschaftshilfen, keine Ausweitung der Zollunion. Und wir müssen den Flüchtlingsdeal aufkündigen. Wir dürfen uns nicht länger erpressbar machen und unsere asylpolitische Verantwortung auslagern.
Würde sich das Verhältnis zur Türkei mit Erdogan nicht noch weiter verschlechtern, wenn man die Zugbrücken hochzieht?
Ich will die Beziehungen ja nicht gänzlich abbrechen. Beispielsweise sollten wir die Türkei auch weiterhin bei der Versorgung der vielen Geflüchteten unterstützen. Und auch EU-Hilfsgelder zugunsten von Nichtregierungsorganisationen braucht es weiterhin.
War es sinnvoll, den türkischen Präsidenten im Rahmen des G20-Gipfels nicht in Deutschland öffentlich auftreten zu lassen?
Ich bin gegen solche Verbote. Es ist kein Ausdruck der Stärke, dass Erdogan nicht auftreten durfte. Wir sollten sehr deutlich machen, dass sich Deutschland unterscheidet: In unserer Demokratie darf man eine Rede halten, auch wenn sie uns nicht gefällt – solange die Sicherheit gewährleistet ist und nicht gehetzt wird.
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz warnt vor einer Zuspitzung der Flüchtlingskrise. Erwarten Sie ähnliche Zustände wie im Jahr 2015?
Nein. Die Große Koalition hat das Asylrecht massiv verschärft. Die Balkanroute ist dicht, die Türkei abgeriegelt, das Mittelmeer die tödlichste Grenze der Welt. Ich möchte keine Festung Deutschland, auch keine Festung Europa. Das Grundrecht auf Asyl, die Menschenwürde wurden ausgehöhlt – immer mit dem Hinweis, das sei notwendig in der Auseinandersetzung mit der AfD. Ich aber bin überzeugt, dass man nicht per Imitation rassistische oder rechtsextreme Politik abwehrt, sondern, indem wir zeigen, was Demokratie und Asylrecht heißen.
Italien sieht sich wegen der vielen Migranten an der Belastungsgrenze, in Sachen europäischer Solidarität hapert es aber gewaltig. Muss die EU-Kommission den Aufnahmeverweigerern stärker an den Geldbeutel?
Was die EU-Mitgliedstaaten da veranstalten, ist ein Wettlauf der Schäbigkeit. So geht es nicht weiter. Es braucht dringend eine faire Verteilung. Momentan führt kein Weg daran vorbei, Aufnahmeverweigerer zu sanktionieren und einen Flüchtlingsfonds einzurichten, der aufnehmende Länder unterstützt. Letztlich brauchen wir in der EU aber eine eigenständige Asyl- und Einwanderungspolitik. Wir dürfen dem Sterben im Mittelmeer nicht länger zuschauen und müssen legale Migrationsmöglichkeiten anbieten.
CSU-Chef Seehofer liebäugelt inzwischen mit einem schwarz-grünen Bündnis, wenn es nach der Bundestagswahl möglich wird. Sie auch?
Wir Grüne wollen regieren, aber nicht um jeden Preis. Die Inhalte müssen passen. Was überhaupt nicht geht, ist beispielsweise das verschärfte Gefährder-Gesetz der CSU. Das ist Guantanamo in Bayern und hat mit unserem Rechtsstaat nichts mehr zu tun.
Das klingt sicher nicht danach, als würden Sie auf Schwarz-Grün hoffen.
Wir wollen den Politikwechsel, keine Posten. Da ist die CSU leider auch in den Bereichen, in denen sie gerade die Bundesminister stellt, ein richtiges Problem.
Was meinen Sie konkret?
Wir hatten vier Jahre lang keinen Verkehrsminister. Alexander Dobrindt hat sich um nichts anderes als eine ausländerfeindliche Maut gekümmert. Er hat die Ohren und den Mund zugemacht, als es um eine klare Haltung gegenüber den Autokonzernen ging. Möglicherweise zahlen jetzt die Arbeitnehmer den Preis, wenn der Dieselskandal zu Einbußen bei den Autobauern führen wird. Und die Verkehrswende hat Dobrindt auch verschlafen.
An der Landwirtschaftspolitik lassen die Grünen auch kein gutes Haar.
Christian Schmidt ist eine integre Persönlichkeit. Aber als Minister war er immer nur die Stimme von Großindustrie und Glyphosat, aber doch nicht von meinem schwäbischen Landwirt oder der niederbayerischen Milchbäuerin. Eine solche Agrarpolitik macht nicht nur den Ökolandbau kaputt, sondern auch die ländlichen Regionen in Bayern überhaupt.
Im Moment dümpeln die Grünen in Umfragen bei sieben oder acht Prozent herum. Die Ansprüche jedoch liegen deutlich höher...
Keine Panik. Unsere Partei ist mobilisiert. Die Themen sind da, wir müssen nur deutlich machen, dass das Original besser ist als die Kopie. Es reicht halt nicht, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel einen grünen Blazer trägt, Trump kritisiert, aber dann selbst die gesteckten Klimaziele verfehlt. Im Kampf gegen den Klimawandel, für eine moderne weil ökologische Wirtschaft, für die weltoffene und gerechte Gesellschaft – da braucht es uns Grüne.
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