Christian Lindner in der AZ: "Werden irgendwann massiv Steuern erhöhen müssen"

München – Mit wem geht er nach getaner Arbeit ein Bier trinken? Warum hängt er so verbissen an der Schuldenbremse und wie sollte man in Zukunft mit islamistischen Gefährdern umgehen? Über all das und die anstehende Europawahl hat die AZ mit FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner (45) gesprochen.
AZ: Herr Lindner, was bedeutet Europa für Sie ganz persönlich?
CHRISTIAN LINDNER: Europa ist ein Raum der Freiheit, in dem wir uns ohne Grenzkontrollen, Währungsschwankungen und lästiges Geldwechseln frei bewegen und unseren Zielen nachgehen können.
Geht es ein ganz kleines Bisschen persönlicher?
Das ist genau das, was mich immer fasziniert hat: während des Studiums meine damalige Freundin in Rom zu besuchen, in einem anderen europäischen Land zu sein – und mich frei dorthin bewegt zu haben. Leider war ich so früh berufstätig, dass ich von den wunderbaren Erasmus-Erfahrungen nur aus zweiter Hand – eben über meine damalige Freundin – profitiert habe und nicht selbst.
Der französische Präsident Emmanuel Macron fordert einen "Investitionsschock" für Europa, finanziert zum Beispiel über gemeinsame Anleihen, um es fit für die Herausforderungen der Zukunft zu machen. Warum sind Sie dagegen?
Wir müssen erstens darauf achten, dass jedes Mitgliedsland der Europäischen Union für die eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik weiter Verantwortung trägt. Haftung ist die beste Versicherung gegen ökonomischen Unfug. Zweitens zahlen wir hohe Zinsen für Schulden. Ich möchte das Geld der Steuerzahler lieber direkt in Bildung, Technologie und Infrastruktur investieren, statt es an die Kapitalmärkte zu überweisen. Tatsächlich können wir diesen Investitionsschock auch dann realisieren, wenn wir die Möglichkeiten für das vorhandene private Sparkapital verbessern. Mein Weg wäre daher, eine europäische Kapitalmarktunion zu schaffen, in der die Versicherungen das billionenschwere Anlagevermögen auch in Zukunft investieren können.
FDP-Chef Christian Lindner zur geplanten Kürzung der Entwicklungshilfe: "Das ist einfach zu viel, das kriegen wir nicht hin"
Auch auf Bundesebene sträuben Sie sich gegen neue Kredite: Mit ihrem Festhalten an der Schuldenbremse steht die FDP in der Bundesregierung allerdings alleine da. Warum verteidigen Sie das Instrument so verbissen?
Aus ökonomischen Gründen. Wir haben ja, wie ich gerade schon mit Blick auf Europa gesagt habe, Zinsen, die wir zahlen müssen. Das waren 2021 vier Milliarden Euro und in diesem Jahr werden es 37 Milliarden sein. Wenn wir immer weiter Schulden machen, werden wir irgendwann massiv die Steuern erhöhen müssen, um für die Entscheidungen der Vergangenheit zu bezahlen. Deshalb verstehe ich die Schuldenbremse als eine Erinnerung, Prioritäten bei den Staatsausgaben zu setzen. Das bedeutet, dass wir beispielsweise im Bereich des internationalen Engagements oder beim Bürgergeld zu einer besseren Mittelverwendung kommen müssen.
Mit dem internationalen Engagement spielen Sie auf die Entwicklungshilfe an, die Sie kürzen wollen. Warum?
Weil sich Deutschland auf harte Sicherheit wie die Landes- und Bündnisverteidigung konzentrieren muss und auf die Unterstützung der Ukraine. Wir sind hinter den USA die Nummer Zwei bei der Entwicklungshilfe – mit weitem Abstand zu anderen entwickelten Wirtschaftsnationen. Das ist einfach zu viel, das kriegen wir nicht hin.
Stichwort Ukraine: Selbst aus der CDU kommen Stimmen, dass man aufgrund des russischen Angriffskrieges eine außergewöhnliche Notsituation erklären und eben doch Schulden machen sollte.
Deutschland ist bereits das zweitgrößte Geberland nach den USA, 50 Prozent der gesamten europäischen Hilfe kommt aus der Bundesrepublik. Es macht keinen Sinn, dass Deutschland mehr tut, damit die anderen weiter zu wenig unternehmen können. Ich bin der Auffassung, dass wir eine Finanzpolitik machen müssen, die auf langfristige Tragfähigkeit angelegt ist – und langfristigen Aufgaben kann man nicht mit immer neuen Schulden begegnen. Möchten Sie noch ein weiteres Argument zum Festhalten an der Schuldenbremse hören?
Nur zu.
Deutschland ist gegenwärtig nicht in Übereinstimmung mit europäischem Recht. Denn unsere Schuldenquote dürfte demnach nur 60 Prozent betragen. Wir sind auf dem Weg dorthin, aber noch nicht da. Als ich das Finanzministerium übernommen habe, waren wir bei 69 Prozent Schuldenquote, jetzt sind es 64. Das heißt: Die Richtung stimmt, aber wir sind noch nicht am Ziel, um rechtskonform zu sein.
Nach Entgleisung von FDP-Spitzenkandidatin Strack-Zimmermann: "Ich kommuniziere gut mit Herrn Scholz"
Ihre Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann fordert eine europäische Verteidigungsunion, die Aktivierung von 900.000 Bundeswehr-Reservisten und immer neue Waffen für die Ukraine. All das kostet Geld. Spricht sie diese Vorstöße eigentlich mit dem Finanzminister ab?
Ja. Wir sind da auf einer Linie. Eine stärkere europäische Verteidigungspolitik hat gerade den Zweck, dass wir aus jedem Euro Steuergeld mehr Sicherheit herausholen. Die Europäer geben ja im Vergleich zu anderen gar nicht so wenig für ihre Sicherheit und Verteidigung aus. Aber weil wir das nicht koordiniert machen, kein Waffensystem und kein Kaliber zum anderen passt, bekommen wir nicht so viel Sicherheit fürs Geld wie andere. Mit Blick auf die Erfassung der Reservisten bin ich ebenfalls ganz ihrer Meinung: Das ist unsere Alternative zur Diskussion um eine neue Dienstpflicht. Wir wollen die Reservisten, die qualifiziert sind, und die oft auch ihren Beitrag leisten wollen, wieder stärker in den Blick nehmen, statt zwangsweise einen ganzen Jahrgang von Ausbildung und Beruf abzuhalten.
Frau Strack-Zimmermann hat zuletzt auch hiermit Schlagzeilen gemacht: Sie hat Olaf Scholz in einem Interview einen "krassen Rechthaber" mit autistischen Zügen genannt. Wie sehen Sie denn den Bundeskanzler?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann wollte wohl auf das aus ihrer Sicht bestehende Kommunikationsdefizit hinweisen. Ich kommuniziere gut mit Herrn Scholz.
Mit wem gehen Sie eher ein Bier trinken – mit Kanzler Scholz oder Wirtschaftsminister Robert Habeck?
Wir verbringen viel Zeit zu dritt. Wir sind nun mal in einem Dreier-Bündnis und deshalb sollte man keinen ausschließen.
Beschlägt Russland Vermögen aus den USA und Deutschland? "Es ist nicht ausgeschlossen, dass es zu Vergeltungsmaßnahmen kommt"
Zurück zum Geld: Allein in der EU sind nach Kommissionsangaben russische Vermögen im Wert von rund 210 Milliarden Euro eingefroren. Nun wird darüber diskutiert, die Zinsen in Aufrüstung und Wiederaufbau der Ukraine fließen zu lassen. Warum nicht gleich alles?
Das sind Vermögenswerte, die eingefroren wurden, aber nicht konfisziert. Man kann staatliche Vermögenswerte nicht einfach einziehen, weil Staaten nach dem Völkerrecht eine Immunität besitzen. Aber wir können das eingefrorene Vermögen nutzen und wir sind gerade dabei, noch mehr daraus zu machen: Wir wollen nicht nur die Zinsen aus den eingefrorenen Vermögenswerten verwenden, weil das ja immer nur ein kleiner Betrag ist. Wir wollen schauen, ob wir das smarter machen können, indem wir einen großen Kredit als Hebel nutzen, um aus dem Kapitalfluss eine sehr starke einmalige Unterstützung zu machen.
Das wäre der Vorschlag Ihrer US-Kollegin Janet Yellen: ein Kredit der G7-Staaten – die Rede ist von 50 Milliarden US-Dollar –, der durch die Zinserträge abgesichert wird.
Eine Summe kann ich nicht sagen. Aber in der Tat beziehe ich mich auf den Vorstoß der USA, bei dem wir jetzt schauen, wie wir ihn rechtssicher und so umsetzen können, dass es keine besonderen Risiken für die Steuerzahler gibt.
Kremlchef Wladimir Putin hat unlängst ein Dekret zur Beschlagnahmung von amerikanischen Vermögen in Russland unterzeichnet. Befürchten Sie, dass so etwas auch für deutsche Vermögen kommt?
Es ist nicht ausgeschlossen, dass es zu Vergeltungsmaßnahmen kommt. Bei Putin kann man sich auf gar nichts verlassen. Ein Rechtsstaat ist Russland schon lange nicht mehr.
Steuerumgehungen und Produktpiraterie: Chinesischer Online-Marktplatz Temu im Visier der EU-Kommission
Blicken wir gen China und auf das Thema Strafzölle: Sie sagen, man müsse auf Dumping und unfairen Wettbewerb reagieren, ohne den freien Welthandel zu gefährden. Wie soll das gehen – etwa, wenn die Volksrepublik Europa mit billigen Stromern flutet, was die Kommission ja gerade untersucht?
Es ist Aufgabe der Kommission, herauszufinden, ob tatsächlich Dumping stattfindet – oder ob einfach eine besondere Wettbewerbsfähigkeit oder ein wirtschaftlicher Größenvorteil vorliegen, die günstigere Preise begründen. Wir sollten das von Produkt zu Produkt auf der Basis von objektiven Fakten prüfen. Das ist für mich keine politische Frage, weil wir politisch ein Interesse an freiem und fairem Welthandel haben müssen. Dort aber, wo die EU-Kommission Dumping feststellt, muss man sehr nüchtern, aber mit großer Entschlossenheit, reagieren.
Haben Sie schon mal beim chinesischen Online-Marktplatz Temu bestellt, den monatlich 45 Millionen EU-Bürger nutzen und den die Kommission nun ins Visier genommen hat?
Ich weiß, dass und wo es in dieser Hinsicht Probleme gibt. Deshalb arbeitet der Zoll eindringlich daran, mögliche Steuerumgehungen oder auch Produktpiraterie zu unterbinden. Das ist – genau wie die Unterstützung der Ukraine durch die Nutzung von Steuern auf eingefrorene russische Vermögen – gerade ein Thema, das mich sehr intensiv beschäftigt.
Wenn man sich in Münchner Mehrfamilienhäusern umschaut, stecken da ziemlich viele Temu-Pakete ohne Wapperl vom Zoll. Wie kann das sein?
Weil der Zoll den Warenumschlag so kontrolliert, dass es nicht zu einer Kappung der Lieferketten kommt. Wir machen eine risikoorientierte Analyse. Wenn man sich alles ansieht, würde das dazu führen, dass die Ein- und Ausfuhr in Deutschland blockiert würde. Da ginge dann gar nichts mehr. Aber ohne Details aus unseren Ermittlungen auszuplaudern: Wir bearbeiten diese Probleme mit großer Sensibilität und werden hier auch Schwerpunkte bei der Untersuchung bilden.
Wahl der Kommissionspräsidentin: Stimmt die FDP für Ursula von der Leyen?
Es wird kolportiert, Herr Macron würde Mario Draghi der CDU-Politikerin Ursula von der Leyen an der Spitze der EU-Kommission vorziehen. Das müsste Ihnen doch gefallen – schließlich hat die FDP zuletzt kein gutes Haar an der Amtsinhaberin gelassen.
Mir geht es weniger um Namen und Nationalitäten als um Politik. Die vergangenen fünf Jahre hat Europa an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Wir hatten verrückte Sachen wie das Verbrennerverbot, das Lieferkettengesetz oder Sanierungspflichten für Eigenheime. Das konnten wir alles nur mühsam über unsere Beteiligung an der Bundesregierung dämpfen oder korrigieren. Deshalb wäre es besser, es stünde keine CDU-Politikerin an der Spitze der EU-Kommission, die agiert, als wäre sie eine Grüne. Mir geht es darum, dass wir eine andere Politik der EU-Kommission bekommen, eine, die unsere Europäische Union wirtschaftlich stärker macht, nicht in das Leben der Menschen eingreift und vor allem diese völlig unsinnigen Technologieverbote beendet. Am Ende sollen die Menschen und die wirtschaftlichen Entwicklungen entscheiden, welche Technologie Zukunft hat, nicht Europapolitiker und Beamte.
Die FDP-Abgeordneten im Europa-Parlament werden Ursula von der Leyen also nicht ihre Stimme geben?
Wer auch immer an die Spitze der Kommission treten will, wird Fragen zu ihrem zukünftigen Kurs beantworten müssen.
Ganz etwas anderes: Der Brenner-Basistunnel könnte ein europäisches Prestigeprojekt sein, doch seit Jahren geht auf deutscher Seite nichts voran. Sie haben doch mit Ressortchef Volker Wissing einen Mann im Bundesverkehrsministerium, wann tut sich in dieser Hinsicht mal was?
Aus dem Verkehrsministerium weiß ich, dass der Ausbau der Eisenbahnachse zwischen München und Verona anhand eines auf der europäischen Ebene abgestimmten Zeitplans erfolgt. Innerhalb dieses Terminrahmens bewegt sich auch die Planung des Brenner-Nordzulaufs. Die Vorplanungsphase ist hier weitgehend abgeschlossen. Bis 2040 soll die viergleisige Brennerachse fertiggestellt sein.
Jahrhundertflut in Bayern: Wer kommt für die Schäden auf?
Aktuell ist in Bayern Land unter. Ministerpräsident Markus Söder hat bei seinem Besuch in den Hochwassergebieten Unterstützung für die Flutopfer vom Bund gefordert. Darf er sich – und vor allem dürfen sich die Menschen – Hoffnung machen?
Wenn es ein Schadensereignis ist, das so groß ist, dass der Freistaat Bayern damit überfordert ist oder überfordert werden könnte, haben wir reguläre Verfahren. Jetzt ist die Priorität aber erst einmal, den Menschen zu helfen, akute Schäden zu beseitigen und die Lage zu bewältigen – und danach zu schauen, wer leistet welchen Beitrag. Dass der Bund hilft, hat man ja bei der Unterstützung der Flutopfer von 2021 gesehen. Das ist ständige Staatspraxis, danach muss man nicht politisch rufen.
Wir erleben immer mehr Angriffe auf Politiker und Wahlkämpfer. Am Sonntag ist der junge Polizist gestorben, der bei einer Messer-Attacke in Mannheim eingeschritten ist. Hat Deutschland ein Extremismus-Problem?
Der Tod des jungen Polizisten in Mannheim stimmt mich sehr traurig und wütend. Wir müssen uns mit aller Entschlossenheit gegen den islamistischen Terror und jedweden anderen politischen Extremismus wehren. Hetze und Gewalt sind nicht zu tolerieren und müssen mit der ganzen Härte des Gesetzes geahndet werden. Der Bund und die Länder müssen sich bei ihrem Vorgehen gegen Extremisten künftig besser abstimmen. Ausländische Gefährder müssen außerdem konsequent abgeschoben werden. Und bei allen finanziellen Umsteuerungsnotwendigkeiten zugunsten von Infrastruktur, Digitalisierung, Bildung und einer Stärkung der Wirtschaft: Den Bereich der harten Sicherheit im In- und Ausland nehme ich aus. Hier werden wir die Behörden finanziell weiter stärken.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Lindner.