Christian Lindner: "Beim Tempolimit stellt sich die Frage des Menschenbildes"

AZ: Herr Lindner, Sie rudern gerne. Dann können Sie ja demnächst gemeinsam mit dem bekennenden Ruderer Olaf Scholz im Zweier fahren.
CHRISTIAN LINDNER: Herr Scholz rudert ja auf dem Wasser, ich rudere zu Hause auf der Maschine.
Wer hält die kommende Neujahrsansprache?
Das ist in diesem Jahr offen wie nie, denn selbst die Frage, wer stärkste Partei wird, entscheidet nicht über die Frage der Kanzlerschaft. Mutmaßlich werden 75 Prozent der Menschen die Kanzlerpartei gar nicht gewählt haben. Es kommt darauf an, eine Koalition im Bundestag bilden zu können.
Ist es nicht moralisch angreifbar, wenn man um den herum eine Koalition schmiedet, der als Erster durchs Ziel geht, um jemanden anders zum Kanzler zu machen?
Die Verfassung sieht eine Mehrheit im Bundestag vor. Es ist seit 1949 mehrfach passiert, dass ein Kanzler nicht aus der Partei stammte, die die meisten Stimmen bekam. 1976 hatte die Union von Helmut Kohl sechs Prozentpunkte mehr Stimmen als die SPD von Helmut Schmidt, trotzdem blieb dieser Kanzler. Gerade heute, wenn die stärkste Partei vielleicht 25 Prozent bekommt, kann man daraus moralisch keinen Führungsanspruch ableiten.
Das könnte die SPD aber auch so halten, falls Sie als Zweiter durchs Ziel ginge.
Das ist absolut richtig.

Was ist denn Ihre Wunschkoalition?
Ich rate dazu, FDP zu wählen, weil wir die politische Mitte stärken. Die Union ist mit sich nicht im Reinen. Die einen wollen die Schuldenbremse im Grundgesetz erhalten, Markus Söder will die Aufweichung prüfen. Die Union ist in den letzten Jahren immer bereit gewesen, linke Ideen der Grünen zu adaptieren, das ist ein Grund für ihre gegenwärtige Schwäche. Die Union alleine ohne FDP könnte Wünsche der Grünen nach Umverteilung, Bürokratismus, Bevormundung gar nicht zurückweisen.
"Jamaika unter Merkel hätte einen Linksdrift bedeutet"
Um Herrn Laschet zum Kanzler zu machen, bräuchten Sie die Grünen. Was bieten Sie denen, damit sie mitmachen?
Ich will ja nicht Kanzler werden, deswegen muss ich keine Angebote an andere machen. Wir wollen uns einbringen für die Stärkung unseres wirtschaftlichen Fundaments, der Aufschwung nach dem Lockdown ist bei uns viel schwächer als in Italien und erst recht als in den USA oder China. Deshalb fehlen uns Investitionen, uns fehlt Beschäftigung, deswegen fallen Gehaltserhöhungen geringer aus. Der Staat hat weniger Einnahmen, die man für sinnvolle Investitionen einsetzen könnte, für Bildung, für Klimaschutz mit Technologie statt Verboten.
Es gibt das Gerücht, die Union habe sich mit der FDP schon längst geeinigt, und den Grünen böte man als Zuckerl das Amt der Bundespräsidentin für Kathrin Göring-Eckardt an. Stimmt das?
Nein, es gibt keine wie auch immer gearteten Vorverhandlungen. Gegenwärtig ist es ja auch so, dass die CSU vor der Wahl der FDP warnt. Was nicht frei von einer gewissen Ironie ist, denn in der Vergangenheit war es ja immer die CDU - siehe Baden-Württemberg -, die so gut wie alle Inhalte geopfert hat, um zu regieren, während wir bekanntlich schon einmal Nein gesagt haben.
Das bereitet manchen Wählern vielleicht Sorge. Wie können Sie denen garantieren, dass Sie dieses Mal am Verhandlungstisch sitzenbleiben?
2017 haben wir durch die Beendigung der Verhandlungen einen Linksdrift in Deutschland verhindert. Jamaika unter Frau Merkel hätte genau das bedeutet. Die CDU wollte den Grünen sogar in der Flüchtlingspolitik faktisch die Richtlinienkompetenz übertragen. Das konnten wir nicht mitmachen. Deswegen kann jeder sicher sein: Wer FDP wählt, bekommt eben keine linke Politik, wie die Union behauptet. Umgekehrt: Wer CDU/CSU wählt, kann sich nicht sicher sein, dass die Union nicht im Zweifel - bei einer schwächeren FDP - den Grünen quasi alles zugesteht, um an der Macht zu bleiben.
Freuen Sie sich schon auf die Koalitionsverhandlungen mit Anton Hofreiter?
Lassen Sie mich darauf mal so antworten: Für mich ist es ein Mysterium, dass in Großstädten wie München viele sehr bürgerliche Menschen, die eigentlich eine Politik der Mitte wollen, die Grünen wählen. Vermutlich, weil ihnen Klimaschutz wichtig ist oder bessere Bildung. Das bekommen sie bei uns auch. Wer die Grünen wählt, unterstützt aber zugleich den Flirt mit der Linkspartei, die 75 Prozent Spitzensteuersatz will, die Enteignungen will und vom demokratischen Sozialismus träumt. Davon distanzieren sich die Grünen nicht, und sie bekommen trotzdem Stimmen von Wählern, die etwas ganz anderes wollen.
Sie wollen den Solidaritätszuschlag vollständig abschaffen.
Wir gehen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht den Solidaritätszuschlag als verfassungswidrig verwirft, wir halten das auch für erforderlich. Ich habe eben schon darauf hingewiesen, dass wir in Deutschland ein viel geringeres Wirtschaftswachstum haben. Unserer Ansicht nach empfiehlt es sich, ein beschleunigtes Super-Abschreibungsprogramm für Anlageinvestitionen, die dem Klimaschutz und der Digitalisierung in den Betrieben dienen, zu kombinieren mit der gezielten Senkung der Steuertarife. Dazu gehört die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Das Ifo-Institut hat gerade ein Gutachten vorgelegt, dass das erwähnte Modell sich positiv auf Beschäftigung und Investition, dann auch auf Wachstum und die Staatseinnahmen auswirken würde.
Schön, dass die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung mit Ihnen mehr Geld bekommen. Was ist denn Ihr Geschenk an den Durchschnittsverdiener?
Ihre Argumentation weise ich zurück, es geht bei der Soli-Abschaffung ja um eine Frage der Verfassung. Man kann eine zweckgebundene Ergänzungsabgabe nach Wegfall des Zwecks nicht weiter erheben. Zum anderen handelt es sich vielfach um betriebliche Steuern, die - wenn sie zu hoch sind - die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands beeinträchtigen und dazu führen, dass wir beklagenswert wenig Investitionen in Zukunftsbereiche tätigen können.
Lindner: "Wir sind bereits ein Höchststeuerland"
Sie könnten sich mit den Koalitionspartnern darauf einigen, die Solidaritätssteuer abzuschaffen und dafür die Einkommensteuer für die obersten zehn Prozent zu erhöhen. Aber das will die FDP ja nicht.
Wir sind bereits ein Höchststeuerland. Und ich finde, wir sollten durchaus auch den 50 Prozent der Gesellschaft Respekt zollen, die 90 Prozent des Steueraufkommens leisten, also der arbeitenden Mitte. Wir dürfen uns in Deutschland nicht nur in das Verteilen des Wohlstands verlieben. Wir müssen uns auch wieder um die Bedingungen sorgen, unter denen er erwirtschaftet wird.
Wie bekommen Sie dann die Schere zwischen Arm und Reich, die sich in der Pandemie wieder deutlich gezeigt hat, enger zusammen?
Wir müssen dringend daran arbeiten, dass Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen sich Schritt für Schritt eine wirtschaftliche Unabhängigkeit erarbeiten können. Die Steuer- und Sozialabgabenlast darf gerade für diesen Teil der Bevölkerung nicht zu groß werden. Wir brauchen auch eine Erhöhung des Sparerpauschbetrags, der ist seit Jahren nicht erhöht worden. Und ich mache mich stark dafür, dass wir einen Freibetrag bei der Grunderwerbssteuer bekommen in Höhe von 500.000 Euro. Es geht nicht um Luxusimmobilien, es geht auch um die selbstgenutzte Wohnung.
Der Wohnungserwerb ist für Münchner mit Durchschnittseinkommen reine Utopie. Warum sollen diese Menschen FDP wählen?
Gerade diese Leute wählen doch FDP, weil wir die Partei sind, die ihnen das wirtschaftliche Vorankommen erleichtert, weil wir uns um die Bildungschancen ihrer Kinder kümmern, weil wir mit Konzepten wie der gesetzlichen Aktienrente ihr Auskommen im Alter sichern.
Das ist ein bisschen abstrakt. Ein konkretes Geschenk hingegen haben Sie für Menschen, die sehr gut verdienen. Die Bemessungsgrenze für den Spitzensteuersatz soll erst bei 90.000 Euro greifen.
Wenn man Menschen entlastet, die unternehmerisches Risiko tragen, investieren, Arbeitsplätze schaffen oder als hochqualifizierte Ingenieure durch Patente dafür sorgen, dass auch der Facharbeiter einen Job hat, dann ist das kein Geschenk. Die FDP hat zudem von allen Parteien für die Gruppe der kleineren und mittleren Einkommen die größte Entlastung im Programm.
Wir müssen auch noch über Covid sprechen. Aus ihrer Partei gab es Rufe nach dem "Freedom Day", dem Wegfall jeglicher Beschränkung. Die Briten hatten das schon - und verzeichnen angeblich täglich bis zu 200 Tote. Taugt das zum Vorbild?
Wir müssen uns Schritt für Schritt in Richtung Normalität arbeiten. Es wird dereinst eine Aufhebung der Beschränkungen geben müssen. Das ist schon allein verfassungsrechtlich notwendig. Ich wage es jetzt aber nicht, ein Datum zu nennen. Momentan geht es darum, mit mobilen Impfteams die Impfquote weiter zu erhöhen. Ich halte übrigens auch nichts davon, dass die Tests so schnell kostenpflichtig werden sollen. Gerade Jüngere oder Menschen mit geringeren Einkommen, die sich nicht impfen wollen, werden auf Tests für Gastronomie verzichten und sich im Privaten treffen. Ich halte auch die 2G-Regel für falsch. Es muss nicht geimpften, aber negativ getesteten Menschen weiter möglich sein, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Aber die Daumenschrauben werden angezogen. Es wird bald keine Lohnfortzahlung mehr für Ungeimpfte in Quarantäne geben.
Wir sollten zunächst einmal alles dafür tun, die Impfquote zu erhöhen. Beschlüsse wie dieser kommen meines Erachtens zu früh, denn beim Impfen wurden noch nicht alle Möglichkeiten ausgereizt. Was wir jetzt eher brauchen, sind mehr niedrigschwellige Impfangebote. Die Impfung muss zu den Menschen kommen, nicht umgekehrt.
Die Mehrheit der Deutschen wünscht sich ein Tempolimit, die FDP ist dagegen. Warum?
Beim Tempolimit handelt es sich um ein Verbot, dessen Sinn sich nicht erschließt. Wir haben äußerst sichere Autobahnen, und ausweislich der Verkehrssicherheitsstatistik ist die Sicherheit auf deutschen Straßen, insbesondere den Autobahnen, höher als in den meisten Ländern, die ein Tempolimit haben. Für mich ist das eine Frage des Menschenbildes: Traut man einem erwachsenen Menschen zu, mit zum Beispiel seinem batterieelektrischen Auto nachts auf der freien Autobahn bei gutem Wetter eine informierte Entscheidung über seine Geschwindigkeit zu treffen? Ich traue es ihm zu.
Es gibt ein halbes Dutzend erfolgreicher Start-ups in Deutschland, die Lastenräder herstellen. Warum lästern Sie über die - etwa auf dem FDP-Parteitag?
Ich lästere nicht über das Lastenfahrrad. Sondern ich kritisiere diejenigen, die eine Milliarde Euro zusätzliches Steuergeld in die Subventionierung von Lastenfahrrädern investieren wollen. Ich glaube, dass wir weder Investitionen für das Lastenfahrrad benötigen noch milliardenschwere Unterstützung vom Steuerzahler für Elektroautos. Warum, ich greife mal Ihr Wort auf, wollen Sie gutverdienenden Menschen ein Geschenk machen?
"Besser Cannabis aus der Apotheke als vom Schwarzmarkt"
Sie wollen Cannabis freigeben. Hat das mit eigenen Jugenderfahrungen zu tun?
Nein, ich muss Sie leider enttäuschen, ich habe nicht gekifft. Es ist einfach eine Frage der Kriminal- und Gesundheitsprävention. Weil es besser ist, jemand kauft in der Apotheke aus gesicherter Quelle mit gesundheitlicher Belehrung Cannabis als in irgendeiner Ecke auf dem Schwarzmarkt von einer Person, die auch noch Pillen im Programm hat.
Viele Flüchtlinge, die 2015 gekommen sind, arbeiten, haben aber einen völlig ungeklärten Status, was ihre Zukunft angeht. Könnte man das nicht ändern?
Die FDP fordert einen Spurwechsel. Das bedeutet, man kam auf der Spur des humanitären Schutzes nach Deutschland. Der ist möglicherweise beendet, und es gibt kein Aufenthaltsrecht mehr. Eigentlich müssten diese Menschen ausgewiesen werden. Viele aber wollen bleiben. Mein Angebot wäre, sich diese Menschen genau anzuschauen: Sprechen sie die Sprache, sind sie nicht straffällig geworden, haben sie eine Ausbildung gemacht und bestreiten sie selbstständig ihren Lebensunterhalt? Welcome! Dann fragen wir nicht, woher du kommst, sondern: Wohin willst du mit uns?