Chlorhendl gegen Rohmilch
Die USA und die EU verhandeln ab sofort über die größte Freihandelszone der Welt – die NSA-Affäre ist nicht die einzige Hürde
WASHINGTON Es ist der Auftakt zur Schaffung der größten Freihandelszone der Welt: Wenn sich die USA und die EU einigen, entsteht ein gemeinsamer Markt mit 800 Millionen Menschen, die zusammen die Hälfte der Wirtschaftsleistung der Erde erbringen. Seit gestern wird verhandelt. Aber es gibt noch Klippen. Die AZ erklärt Vor- und Nachteile wie Hintergründe der Union.
Warum überhaupt eine Freihandelszone? Darüber wird seit 1990 nachgedacht – nicht zuletzt als Antwort der zwei klassischen Wirtschaftsblöcke auf die immer stärker werdenden asiatischen Märkte. Der erste Versuch scheiterte 2007 an George Bush und der US-Agrarlobby. Jetzt, gebeutelt nach Finanz- und Schuldenkrise, wollen die schwächelnden Giganten einen neuen Anlauf wagen. Denn sie erhoffen sich einen massiven Schub, wenn Handelsschranken und Zölle fallen (bisher fünf bis sieben Prozent) und Produktstandards so angeglichen werden, dass Export und Import viel einfacher werden.
Wer profitiert wie? Für die USA wird ein zusätzliches Wachstum von 0,4 Prozentpunkten pro Jahr prognostiziert, für die EU von 0,5. Das ist der Grund, warum man in den USA trotz der aktuellen Verstimmung gelassen ist. „Die Europäer würden sich ins eigene Knie schießen, wenn sie das Abkommen an der NSA-Affäre scheitern lassen. Sie haben mehr davon als wir“, so Michael Haltzel vom Zentrum für Transatlantische Beziehungen in Washington. Denn die EU lebt stärker vom Export als die der USA. In der EU werden 400000 neue Jobs erwartet. Am meisten wird Deutschland profitieren, weil es die stärkste Exportnation der EU ist. Innerhalb Deutschlands würden vor allem die Auto-, Chemie- und Pharmabranche neue Vorteile gewinnen, so Stormy-Annika Milden von der Stiftung für Wissenschaft und Politik. Allerdings kann die Angleichung von den Abgaswerten bis zum Autospiegel seine Zeit dauern.
Sinken die Verbraucherschutz-Standards?
Was heißt das für den Verbraucher? Hier offenbaren sich grundsätzliche Mentalitätsunterschiede: Der Europäer hat es gern natürlich, der Amerikaner hat es gern hygienisch. Den durchschnittlichen US-Kunden graust es vor europäischem Rohmilchkäse ungefähr genauso wie den Europäer vor amerikanischen Hendln, die zur Desinfektion gegen Schlachthauskeime immer in Chlor gebadet werden. Ein ähnliches Problem sind gentechnisch veränderte Lebensmittel – in den USA akzeptiert, in Europa mehrheitlich abgelehnt. Einige Verbraucherschützer sind alarmiert: „Mit der Marktöffnung sind alle Errungenschaften des europäischen Verbraucherschutzes in Gefahr“, so Bernd Voß von der Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft. Die EU-Kommission beruhigt: Eine Absenkung der Standards werde es nicht geben. Denkbarer Kompromiss: Die Produkte dürfen bleiben, wie sie sind, müssen aber auffällig gekennzeichnet werden. Andererseits kann der Verbraucher auch profitieren – wenn Hersteller beispielsweise von angesagten Elektronik-Produkten die Preisvorteile durch wegfallende Zölle an den Kunden weitergeben. Auch die Filmwirtschaft ist betroffen – vor allem Frankreich fürchtet Folgen, wenn es Kultur nicht mehr so subventionieren darf und Hollywood die Spielregeln setzt. Auf Druck von Paris ist dieses Segment vorerst ausgeklammert.
Welche Rolle spielt die NSA-Affäre? Politisch wie erwähnt eher eine geringe – auch, weil die Verhandlungen bis 2015 terminiert sind und sich die Aufregung wohl irgendwann legt. Aber: Wirtschafts-Vertreter, denen das Ausspähen von Privatpersonen noch vergleichsweise egal ist, hegen den Verdacht, dass auch Firmengeheimnisse ausgeschnüffelt werden – brisant in einem gemeinsamen Markt. Sie dringen auf Garantien, eine eventuelle Praxis zu beenden, bevor unterschrieben wird.