China-Kenner Bütikofer: "Da muss der Rest der Welt Vorsicht lernen!"
Der 69-jährige Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer ist seit 2009 Mitglied des EU-Parlaments. Bis 2019 war er einer der Vorsitzenden der Europäischen Grünen Partei. Bütikofer gilt als China-Experte.
AZ: Herr Bütikofer, gerade hat Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping auf dem Parteikongress seine Macht weiter ausgebaut. Zur selben Zeit wurde bekannt, dass die chinesische Reederei Cosco Anteile eines Containerterminals am Hamburger Hafen kaufen will - mit Unterstützung aus dem Kanzleramt. Wie bewerten Sie das?
REINHARD BÜTIKOFER: Xi Jinping hat gerade die absolute Zentralisierung aller Macht der Volksrepublik China in seinen Händen festgezurrt. An seinen imperialen Ambitionen lässt er keinen Zweifel. Da muss der Rest der Welt Vorsicht lernen. Einem autoritären China, und die Reederei Cosco ist ein Staatsbetrieb, Mitkontrolle über unsere sensible Infrastruktur einzuräumen, ist ein Fehler. Alle sechs damit befassten Ministerien raten deshalb ab. Auch die EU-Kommission ist kritisch. Leider meint Olaf Scholz, er wisse das besser.

In Kürze reist der Kanzler mit einer Gruppe von Wirtschaftsvertretern nach Peking. In Brüssel sorgt das für Kritik und Kopfschütteln.
Das Bemerkenswerte daran ist, dass nicht nur in Brüssel viele den Kopf schütteln, sondern auch viele Minister in Scholz' Kabinett. Wenn er aber schon fährt, dann wird er sich die Frage stellen müssen, welche Signale er bei dieser Reise setzt. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung versprochen, dass wir eine europäische Chinapolitik machen und keine deutschen Alleingänge wie Angela Merkel. Wenn er sich allzu stark auf Merkels Spuren bewegte, setzte er sich in Widerspruch zu dem, was die Koalition verabredet hat. Dieser Besuch sollte wenigstens ein paar wichtige neue Akzente setzen.
Kritiker meinen, die Reise widerspreche der Ansage der EU, sich aus der massiven Abhängigkeit von China lösen zu wollen. Gleichwohl wirkt es auch in Brüssel nicht so, als habe man es eilig. Verpasst es Europa abermals, rechtzeitig die Kehrtwende einzuläuten?
Es passiert in der Chinapolitik mehr als man auf die Schnelle sieht. Im Bereich der Wirtschaft hat es im letzten Jahr zwar in Summe erhebliche Neuinvestitionen aus Europa nach China gegeben. Bei näherer Analyse zeigt sich aber, dass für 80 Prozent davon nur zehn europäische Konzerne verantwortlich sind, während viele kleinere und mittlere Unternehmen auf die Bremse treten, geplante Investitionen nicht vornehmen oder Investitionen in andere Länder verlagern, also diversifizieren.
Trotzdem, deutsche Firmen wie BASF, BMW oder Siemens bauen ihr Chinageschäft sogar noch aus. Begeht Deutschland denselben Fehler wie mit Russland und macht sein Schicksal abhängig von einem autokratischen Staat?
Gerade im Bereich der Wirtschaft steht eine Diskussion an. Die deutsche Wirtschaftspolitik kann nicht gleichzeitig in zwei Richtungen segeln. Da muss eine Orientierung gefunden werden, die sich nicht daran bemisst, was dem Vorstandsvorsitzenden eines Großkonzerns gefällt, sondern was der deutschen Volkswirtschaft insgesamt nutzt im europäischen Verbund. An diesem Punkt wird sich entscheiden, ob die Zeitenwende ein begrenzter Lernerfolg bleibt oder ob wir aus der russischen Erfahrung Konsequenzen ziehen, mit wem wir vor allem zusammenarbeiten und wo wir vorsichtig sein müssen. Dabei geht es nicht um angebliche ,wirtschaftliche Abkopplung', vor der Olaf Scholz gewarnt hat. Da erschlägt der Kanzler eine Chimäre. Die Beziehungen zu China dürfen einfach unseren politischen Gestaltungsspielraum nicht untergraben.
Erwarten Sie fundamentale Veränderungen in Xi Jinpings dritter Amtszeit?
Nein. Mehr vom Gleichen. In Xis Rede waren trotzdem einige Punkte bemerkenswert. So die Ankündigung zur "Securitisation of everything", also dass die gesamte Innenpolitik zum Sicherheitsthema gemacht wird. Er sprach doppelt so oft von Sicherheit als vor fünf Jahren. Obsessiv identifiziert er überall Sicherheitsrisiken. Die kleinste Abweichung wird unnachsichtig verfolgt. Xi Jinping will dem historischen Trend ein Schnippchen schlagen, wonach es immer irgendwann zu einem Zerfall der Macht kommt. Wie besessen will er seine Macht unangreifbar machen.
Europa muss also mit einer Verschärfung der Situation rechnen?
Ja, es gibt kein Lockerlassen. Xi Jinping hat auch erkennen lassen, dass die Einmischung der Partei in die Wirtschaft, die zu sehr zweifelhaften Ergebnissen geführt hat, weitergehen wird. Außenpolitisch stach heraus, dass sich Peking ,selbstverständlich' vorbehält, Taiwan mit bewaffneter Gewalt unter Kontrolle zu bringen. Dafür gab es Mega-Applaus. Deswegen bleibt die wachsende Aufmerksamkeit für die Frage der Zukunft Taiwans sehr gerechtfertigt.
Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass der Konflikt zwischen China und Taiwan eskalieren könnte?
Ich teile die Ansicht des früheren australischen Premierministers Kevin Rudd, dem zufolge eine militärische Auseinandersetzung vermeidbar wird, wenn wir es schaffen, eine wirksame Politik der Abschreckung zu verfolgen. Das heißt, der Führung in Peking klar zu machen, dass ein solches Abenteuer mit außerordentlich hohen Kosten für das Land selbst verbunden wäre. Nun spielen die EU-Mitgliedsländer im indopazifischen Raum militärisch keine Rolle. Aber wir könnten politisch und ökonomisch eine Rolle spielen. Es gibt nicht wenige, die zu Recht argumentieren, in einem solchen Falle müssten wir gegenüber China genauso konsequent auftreten wie jetzt gegenüber Russland.
Könnten wir uns weitreichende Sanktionen leisten? Die Verflechtungen sind enger, als sie es mit Russland waren.
Das ist ein Unterschied, richtig. Nach Russland gingen vor dem Krieg ungefähr ein Prozent unserer Exporte, nach China gehen annähernd zehn Prozent. Gegenüber einem Land im Konfliktfall selbstbewusst aufzutreten, das uns ökonomisch im Schwitzkasten hätte, wäre sehr schwer. Als Konsequenz müssen wir bestehende Abhängigkeiten, die zur Waffe gegen uns geschmiedet werden können, schnell abbauen. So alternativlos, wie manche tun, ist das Engagement mit China nicht. Erstens setzt China selbst nicht auf langfristige Partnerschaft. Zweitens gibt es erhebliche Zweifel, wie erfolgreich Chinas Ökonomie sein wird. Drittens werden bis 2040 Indien, Indonesien und Japan zusammen wesentlich größere Märkte darstellen. Insofern sollten wir uns nicht in Gespenster-Debatten flüchten.